1. Das Gesicht

[606] 1.

Daß GOTT dieses Rund der Erden,

Wie uns Schrift und Bibel lehrt,

Durch ein Wörtchen lassen werden,

Ist ja wohl Erstaunens werth:

Doch nicht minder ist zu preisen,

Daß in zween so kleinen Kreisen

Alles, was der grosse hegt,

Sich in unsre Seelen prägt.


2.

Wie ist doch von allen Dingen,

Menge, Maaß und Zahl so groß,

Die in unser Auge dringen;

Alles, was der Erden Schooß

Und der weite Himmel heget,

Wird durchs Aug' uns eingepräget,

Alle Cörper, wie es scheint,

Sind mit uns durchs Aug' vereint.
[606]

3.

Was der Erden Gräntzen fassen,

Muß sich durch besond're Kraft

Von zwey Pünctchen fassen lassen;

Deren selt'ne Eigenschaft

Auch die allergrösten Sachen

Dergestalt weis klein zu machen,

Daß, was nicht zu messen steht,

Ins Gehirn durchs Auge geht.


4.

Wie so unbegreiflich ferne,

Werden Vorwürf' uns entdeckt;

Da man selbst bis an die Sterne

Durch das Auge sich erstreckt.

Durch das Auge können Seelen

Mit dem Himmel sich vermählen,

Selbst der Sonnen Sonnen-Licht

Sieht die Seele durchs Gesicht.


5.

Aug', in deinen engen Schrancken

Sieht man, was das Hertze spricht.

Rege Zunge der Gedancken,

Witz des Cörpers, Seelen-Licht,

Richter der Vollkommenheiten,

Spiegel aller Seltsamkeiten,

Die der Erd-Kreis in sich hält,

Führer der sonst blinden Welt!
[607]

6.

Göttlichs Glied, kein Strahl, kein Blitzen

Theilt die Luft so schnell, als du.

Du bleibst, wo du sitzest, sitzen,

Fliegst und stehst in steter Ruh:

Alle Bilder, die der Seelen

Sich so wunderbar vermählen,

Was Verstand und Weisheit weis,

Zeugt dein Strahlen-reicher Kreis.


7.

Wer auf dieses Wunder achtet,

Wenn der Seelen rege Kraft

Durch das Aug' ein Aug' betrachtet;

Wird fast aus sich selbst gerafft,

Weil er mit Erstaunen siehet,

Wie sich die Natur bemühet,

Und so unschätzbaren Schatz

Schliesst in solchen kleinen Platz.


8.

Im Gehirn, der Nerven Quelle,

Wird der Mittel-Punct gezeugt,

Der sich von der Ursprungs-Stelle

In zween zarte Gänge beugt,

Draus die aufmercksamen Augen

Die Bewegungs-Kräfte saugen,

Daß daher, wenn eins sich regt,

Auch das andre sich bewegt.
[608]

9.

Unsrer Augen wässricht Wesen,

Samt der Haut, ist ungefärbt,

Damit, was wir sehn und lesen,

Nicht verändert, nicht verderbt

Unsrer Seele scheinen möchte;

Sie also nur fälschlich dächte,

Wie, wenn wir durch Gläser sehn,

Die gefärbt, pflegt zu geschehn.


10.

Hinter einem jeden Kreise

Findt sich eine schwartze Wand,

An der, auf besond're Weise,

Da sie gleichsam ausgespannt,

Durch die wässrichten Krystallen

Mancherley Gestalten fallen,

Wann das Licht, so sie bestrahlt,

Tausend Bilder daran mahlt.


11.

Linsen gleich zu beyden Seiten,

Zur Beförderung des Lichts,

Wollt' es die Natur bereiten,

Daß die Strahlen des Gesichts,

Die vom Gegenstand erscheinen,

Sich in einen Punct vereinen,

Daß durch doppeln Gegenschlag

Alles deutlich scheinen mag.
[609]

12.

Beyde Träubchen in den Augen

Haben solche seltne Kraft,

Daß sie sich zu öffnen taugen,

Und, nach Muskeln Eigenschaft,

Wiederum zusammen ziehen.

Dieses, wenn sie sich bemühen,

Starckem Lichte zu entgehn,

Das, um in die Fern' zu sehn.


13.

Alles dieses kann man weisen;

Aber, wie das Auge sieht,

Ob das Sehn in seinen Kreisen,

Oder ausserhalb, geschieht;

Davon, wie von vielen Sachen,

Ist kein fester Schluß zu machen,

Vielen scheint es, wenn wir sehn,

So, wie folget, zu geschehn:


14.

Unser Auge treibt zusammen

Alle Geister, die es braucht;

Seine Strahlen sind wie Flammen,

Die der Geist stets von sich haucht,

Die, in Form der Flammen-Seulen

Allzeit aus den Augen eilen,

Wodurch es uns ins Gemüth

Allerley Gestalten zieht.
[610]

15.

Hat man auf verborg'ne Weise

Dieses Feuer weggesandt,

Und es findet auf der Reise

Einen dichten Gegenstand,

Wovon lichte Theilchen springen;

Wird es diese rückwärts dringen,

Und die prall'n im Augenblick,

Durch den Gegenstand, zurück.


16.

Da spürts, durch besond're Künste,

Seines Gegenstandes Bild,

Welches gleichsam als durch Dünste

Stets aus allen Cörpern quillt,

Sich beständig draus erhebet,

Und auf allen Flächen schwebet:

Da, spricht man, sieht das Gesicht,

Aber in dem Auge nicht.


17.

Ich hingegen könnte weisen,

Wie das Fühlen, wenn ich seh',

In der Augen regen Kreisen

Und beym Vorwurf nicht gescheh',

Wie die Bildung aller Dinge

Durch das Licht ins Auge dringe,

Welches wenn man es betracht't,

Dieß Exempel glaublich macht:
[611]

18.

Alle Cörper auf der Erden,

Die rund, glatt und dunckel seyn,

Wenn sie recht betrachtet werden,

Haben einen kleinen Schein:

Dieser fänget, wie ein Spiegel,

Wälder, Wolcken, Thal und Hügel

(Wenn die Sonn' auf selbe strahlt)

Als wenn sie darin gemahlt.


19.

Ja bey aufgeklärtem Wetter

Hab' ich einst von ungefehr,

Wie sich Felder, Bäume, Blätter

Gar in einer Heidelbeer

Fast unsichtbars Scheinchen drückten,

Ihn mit Farb' und Zeichnung schmückten,

Unvergleichlich, rein und schön,

Mit Erstaunen angesehn.


20.

Wie nun solche Bilder fallen

Auf was dichtes; also fällt

In die gläntzenden Krystallen

Unsrer Augen, was die Welt

Durch die Sonne sichtbar heget!

Daß sich aber in uns präget,

Kommt, weils sich durchs Auge spielt,

Da der Sinn die Bilder fühlt.
[612]

21.

Welches nun von beyden Theilen

Unrecht sey, und welches wahr,

(Wenn wir uns nicht übereilen)

Ist nicht eben allzuklar.

GOTTES Wege sind verborgen:

Darum will ich minder sorgen,

Wie die Wunder zu verstehn,

Als erfreut sie anzusehn.


22.

Mit wie vielerley Geweben,

Adern, Nerven, Fleisch und Haut

Ist durchflochten und umgeben

Das, was man im Auge schaut!

Grosse Fäden, kleine Körner,

Netze, Knoten, Trauben, Hörner,

Häutchen, zähe Feuchtigkeit,

Dämmerung und Dunckelheit;


23.

Geister, Wasser, Blut-Gefässe.

Nimmer, nimmer glaubte man,

Daß so viel im Auge sässe,

Als man kaum erzählen kann.

Mäuslein, Häute, Nerven, Drüsen

Werden uns darin gewiesen.

Kurtz: Es wird des Schöpfers Hand

Wunderbar im Aug' erkannt.
[613]

24.

Ferner sind die edlen Glieder

Mit sechs Muskeln noch versehn;

Da das Paar der Augenlieder,

Die bald auf- bald nieder gehn,

Durch ihr nimmer müdes Regen,

Und ihr ewiges Bewegen,

Macht, daß Kälte, Staub und Wind

Nie den Augen schädlich sind.


25.

Daß kein Zufall es verletzen,

Keine Noth ihm schaden mag;

Hats der Schöpfer wollen setzen

Unter ein gewölbtes Dach:

Wo der Augenbraunen Bogen

Sich zur Zierde vorgezogen,

Unter deren halben Kreis'

Es von keinem Schaden weis.


26.

Ja daß uns das Licht nicht möge

Hinderlich am Schlafe seyn,

Schützet GOTT, durch diese Wege,

Unser Aug' vor dessen Schein,

Da vor des Gesichts Krystallen

Sie recht wie ein Vorhang fallen,

Der sich früh, damit man sieht,

Wunderbar zusammen zieht.
[614]

27.

Wer kann ohn' Erstaunen fassen,

Wie die Augen-Lieder sich

So geschwind bewegen lassen;

Seht doch, wie verwunderlich

GOTT den Augen einen Bogen

In den Liedern vorgezogen;

Der so nett aufs Aug' sich schickt,

Das er drückt, und doch nicht drückt.


28.

Diese sind mit kleinen Spitzen

Und sehr zartem Haar versehn,

Sie für Staub und Schweiß zu schützen,

Da die obern aufwärts stehn,

Und die untersten hingegen

Sich ein wenig abwärts legen;

Aufmercksames Auge, merck

Auch auf dieses Wunder-Werck!


29.

Hüben sich die Augenlieder,

Durch die Muskeln, selbst nicht auf,

Sondern süncken immer wieder,

(Ach man achte doch darauf!)

Wie erbärmlich würd' es lassen,

Wenn man sie mit Händen fassen,

Und erst aufwärts schieben müst'!

Mercks, verstockter Atheist!
[615]

30.

Der du keine Gottheit gläubest,

Und bisher verblendet bist,

Wo du hier im Irrthum bleibest,

Und dieß Wunder nicht ermist;

So willt du mit Fleiß nichts sehen.

Kann dieß von sich selbst geschehen?

Zieht sich selbst von ungefehr

Wohl ein Vorhang hin und her?


31.

Daß die Trockenheit nicht wehre

Die Bewegung dem Gesicht,

Ist im Auge manche Röhre

Wunderbarlich zugericht't,

Welche stetig Feuchtigkeiten

Unterm Lied' aufs Auge leiten:

Darum, weil es glatt verbleibt,

Nicht versehrt wird, noch sich reibt.


32.

Daß hiernächst, durch stete Güsse,

Unser Aug' ohn' Unterlaß

Nicht in Thränen stehen müsse:

Wird ein überflüssigs Naß,

Wie man es beständig spüret,

Durch die Nase weggeführet,

Welches, da es so verseigt,

Eine grosse Weisheit zeigt.
[616]

33.

Daß auch, jedes Ding zu sehen,

Welches man zu sehn gedenckt,

Man den Kopf nicht dürfte drehen;

Wird das Auge selbst gelenckt

Auf so wunderbare Weise,

Bloß durch Muskeln rings im Kreise

Rechts, lincks, auf- und unterwärts,

Sonder Müh, und sonder Schmertz.


34.

Schaut die Weisheit und das Lieben

Unsers Schöpfers, der dem Licht

Solch Gesetze vorgeschrieben,

Daß es sich im Wasser bricht.

Daß die Strahlen folglich taugen,

In dem Wasser unsrer Augen

Sich zu brechen: Da die Spitz'

Alles zu verkleinern nütz.


35.

Wie sich, durch des Lichtes Strahlen,

Durch ein Glas im dunckeln Ort,

Alle Bilder deutlich mahlen;

So begreift man alsofort,

Daß, zu diesem Zweck alleine,

Eine wunderbarlich kleine

Zierlich-runde schwartze Wand

In den Augen ausgespannt.
[617]

36.

Drauf viel tausend Schildereyen

Schneller, als der schnellste Blitz,

Sich formiren, sich zerstreuen,

Und sich in der Seelen Sitz

Ehe noch, eh wirs gedencken,

Durch das kleine Nervchen sencken,

Da denn, was so lieblich scheint,

Mit der Seele sich vereint.


37.

Doch das herrlichste von allen,

Das verwirrt Verstand und Witz,

Sind die strahlenden Krystallen,

Die des Lichtes Thron und Sitz.

Helle Circkel, kleine Sterne,

Die ihr so was nah als ferne

Unterscheidet; euer Schein

Scheint was Göttliches zu seyn!


38.

Sollten alle diese Sachen

Wohl von ungefehr geschehn,

Oder, um sie nachzumachen,

Sich wohl Künstler unterstehn,

Sie aus Fischen, Fleisch und Speise

Auf so wunderbare Weise

Zu formiren? Sehet dann

GOTTES Werck in ihnen an!
[618]

39.

Daß der Sinne Kraft nicht grösser,

Stellt ein neues Wunder dar.

Sähen unser' Augen besser

In der Nähe scharf und klar,

Und als durch Vergrössrungs-Gläser

Aller Dinge kleinste Zäser;

Uebersäh der Augen-Strahl

Kaum ein Sand-Korn auf einmahl.


40.

Wären gegentheils die Augen

Wie ein Fern-Glas zugericht't;

Würd' ich zwar zu sehen taugen

Manch entferntes Sternen-Licht:

Aber Sachen in der Nähe,

Die ich itzo deutlich sehe,

Würden, auch beym Sonnen-Schein,

Dunckel und unsichtbar seyn.


41.

Welch Ergetzen, welche Freuden

Bringt uns Menschen das Gesicht,

Wenn man das, nach langem Scheiden,

Was man liebet, sieht und spricht!

Denckt, wie das Gesicht uns nützet,

Wenns uns für Gefahr beschützet,

Die durch Straucheln, Stoß und Fall

Uns sonst drohet überall.
[619]

42.

Wenn wir es genau betrachten,

Ist die Kraft von diesem Sinn

Mit dem höchsten Recht zu achten,

Als der Sinne Königinn,

Da ja Künst' und Wissenschaften

All' an unsern Augen haften:

Künstlich, ja gelehrt, zu seyn

Wirckt fast das Gesicht allein.


43.

Alles würd' uns Menschen fehlen,

Fehlt' uns Menschen das Gesicht.

Ja wenn wir von ihm erzählen,

Daß es unsers Leibes Licht,

Ist es wahr; doch wird mans können,

Gar ein Licht der Seele nennen,

Weil es uns, wenn man studirt,

Auf den Weg der Weisheit führt.


44.

Daß wir ferner durch die Augen

In des Himmels Abgrunds-Thal

Deutlich zu erkennen taugen

Sonnen, sonder Maaß und Zahl:

Daß wir in dem Heer der Sternen

GOTTES Grösse kennen lernen,

Ist ein Wunder, welches man

GOTT nicht gnug verdancken kann.
[620]

45.

Könnten wir es dahin bringen,

Daß man (ach daß es gescheh!)

GOTT durchs Aug' in allen Dingen

Immer gegenwärtig seh!

GOTTES Weisheit, Lieb' und Stärcke

Zeiget sich durch aller Wercke

Künstlichen Zusammenhang,

Lieblichen Zusammenklang.


46.

Wer die Wunder nicht erweget,

Die in uns, der kleinen Welt,

GOTT uns in das Auge leget,

Und vor Kleinigkeiten hält;

Ach daß der bedencken wollte,

Wenn ihm etwas mangeln sollte,

Wie sein Schad' und seine Pein

So empfindlich würden seyn!


47.

Alle Schönheit dieser Erden,

Selbst der Sonnen Wunder-Pracht,

Würd' in nichts verwandelt werden,

Und in ewig finstre Nacht:

Allen Dingen, die wir sehen,

Würde die Gestalt vergehen:

Alles wär' und wäre nicht,

Fehlt' uns Menschen das Gesicht.
[621]

48.

Unbedachtsames Gemüthe,

Sprich, kommt dieß von ungefehr,

Oder aus der Macht und Güte

Eines weisen Wesens her?

Sprich: Verdienen solche Wercke

Nicht so viel, daß man sie mercke?

Wers Geschöpfe nicht betracht't,

Schändet seines Schöpfers Macht.


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 606-622.
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