London,

[223] unter dessen Merkwürdigkeiten mir auch besonders auffiel, daß darin jährlich nur für Milch zum täglichen Gebrauche, sieben Millionen, zweimalhundert fünfzigtausend Gulden bezahlt werden. Zur Hälfte kann man diese Stadt sohin schon mit jenem glücklichen Judenreiche vergleichen, worin Milch und Honig floß, und den Honigfluß finden wir durch andere persönliche Eigenschaften ersetzt, welche den einstimmigen Beifall aller rechtgläubigen Juden verdienen.

Rosa zog die Reise zu Lande dem unsichern Elemente dem Meere, vor. Da ihr nichts von Bedeutung auf der raschen Fahrt begegnete, so treffen wir sie im Hafen von Calais wieder, wie sie eben mit ihren niedlichen Füßchen das Schiff zur Ueberfahrt nach Dovers besteigt. Vom Bord aus sah sie neuerdings die weißlichen Küsten und die Uferklippen von Kent, von welchen England den Namen Albion[223] erhalten hat. Vom Winde begünstiget, betrat sie schon nach wenigen Stunden den Boden des freien Englands, wo man wegen einiger Gulden Schulden einige Jahre lang eingesperrt werden kann. Von Dover aus erreichte sie in einer Tagreise, über Canterbury und Dartford, das nebelumhüllte London. Rosa brachte Empfehlungsbriefe aus Petersburg mit, von so hoher Wichtigkeit, daß sich Ihre Herrlichkeiten um die Ehre stritten, sie in ihre Hôtels aufnehmen zu dürfen. Sie zog Chiswick, das Landgut des geistreichen Canning, zum Absteigquartier den glänzenden Palästen der H. v. C., v. Y., v. R., v. W., vor, die alle um diese Auszeichnung gebuhlt hatten. Rosa schien ihnen wo möglich noch schöner, als bei ihrem früheren kurzen Aufenthalte, und in der That war auch die Form ihres Körpers aus dem Kindlichen und Mädchenhaften mehr in das Jungfräuliche hinübergeschritten. Der H. v. W. stellte sie dem Könige vor, der sie wieder mit der ihm eigenthümlichen Galanterie empfing. Sie sang vor Sr. Majestät und dem ganzen Hofe, und bei dieser Gelegenheit war es, wo ihr zwei Herzoginnen abwechselnd den Shawl hielten, bis es der großen Künstlerin gefiel, ihn wieder anzulegen, eine Huldigung, worüber sich Lady Morgan in ihrem Reiseberichte gewaltig ärgert, wo sie von dem Unterschiede in der Stellung von Schauspielerinnen oder Sängerinnen in großen Zirkeln spricht, rücksichtlich des Herkömmlichen in Paris und London.[224]

»Nie können Frauenzimmer,« sagt diese männliche Dame, »die sich einmal als Schauspielerinnen oder Sängerinnen auf den Brettern gezeigt haben, bei den Damen vom Stande Zutritt erhalten (in Frankreich, namentlich in Paris), ausgenommen in ihrer Berufsfähigkeit, wenn sie an einem bestimmten Abende verpflichtet und bezahlt werden, eine Scene zu geben, oder in einem Privatkonzerte eine Bravourarie zu singen. Die prima donna der Oper kann nie die prima donna einer Privatgesellschaft seyn. Die wohlbekannte Anekdote von einigen englischen Herzoginnen, welche der zuletzt herrschenden Gottheit der Londoner Oper den Shawl hielten, bis es ihr gefiel, ihn anzulegen, erregte in einer Versammlung französischer Damen, wo sie in meiner Gegenwart erzählt wurde, ausnehmende Belustigung. – Die nachbildenden Talente besitzen in Frankreich keinen falschen Werth, sie stehen nicht über, sondern unter dem Originalgenie. Während in den englischen Zirkeln ein beliebter Schauspieler oder Sänger mit größerer Auszeichnung aufgenommen werden würde, als ein Otway oder Cimarosa, nehmen in Frankreich der Verfasser und der Componist in der öffentlichen Achtung und Privatgesellschaft eine Stelle ein, welche die Schauspieler und Sänger nie zu erlangen hoffen können. O! es ist drückend für die Gefühle des hochsinnigen und empfindenden Genie's, so in mißfälliger Dunkelheit seinen kärglichen[225] Lohn zu erhalten, und von den Zeitgenossen vernachläßiget, nur für jenen künftigen Tag zu leben, der zu spät erscheinen wird, um das angenehme Gefühl zu erwecken, das aus dem Bewußtseyn des mit Erfolg gekrönten Verdienstes hervorgeht, während die nachbildenden Talente, die Daseyn und Stoff von ihm entliehen, gefeiert und verschwenderisch bezahlt werden. Einige der besten Dichter Englands kämpfen in diesem Augenblicke nur um das Nothwendigste, fern von jenen Kreisen, welche ihre Talente aufzuklären und zu vergnügen berechnet waren, während italienische Sänger neulich in ihr Vaterland zurückkehrten, um Fürstenthümer zu kaufen, und englische Schauspieler, durch Uebermaaß an schnell erlangtem Reichthum, den sie nicht würdig anzuwenden versteh'n, zu den größten Ausschweifungen verleitet werden. In diesen Fällen wissen sie gewiß die Sachen in Frankreich besser einzurichten.« – Die aristokratische Lady Morgan hat zum Theil Recht, wenn sie darüber klagt, daß die ausübenden Talente ein angenehmeres Daseyn haben, als die erfindenden, daß aber ihr adeliger Hochmuth sich beleidigt fühlt, in vornehmen Salons Theaterdamen zu treffen, ist sehr lächerlich, und die Folge einer ganz einseitigen Erziehung, welche solche befangene Ansichten begünstigte. Die Lady Morgan hat sich nicht selbst zur Lady gemacht, sondern der Zufall; sie hätte eben so gut die Tochter eines Nachtwächters werden können; wie erbärmlich ist also das Prunken[226] mit den Gaben des Zufalls, wie einfältig das Ausschließen von Kunsttalenten aus den vornehmen Zirkeln, deren gespreizte Drahtpuppen dennoch dereinst nichts anders seyn werden, als, wie die Grabschrift des berühmten Generals Tilly lautet: Putredo et esca vormium. (Moder und Würmerfraß).

In vier Opern erndtete Rosa einen ungeheuern Beifall und Guineen ohne Ende, die noch einen außerordentlichen Zufluß durch erneuerte und neue Bekanntschaften verliebter Lords erhielten. Unter diesen erlaubte sich ein gewisser Graf E**, ein alter, einflußreicher Herr, einen ächt englischen Streich. Mehrere Tage nacheinander hatte er frohe Stündchen in Rosa's geheimem Kabinete verlebt, und immer das Doppelte der Preise des Tarifes der Liebe bezahlt. Plötzlich ging ihm das Geld aus; einige Wechsel von Bedeutung trafen nicht ein, Schulden machen wollte er nicht, und auch nicht die täglichen Besuche bei Rosa aufgeben. Was that er nun? In der Garderobe seiner Frau befanden sich zwei noch ganz ungebrauchte, ächt persische Shawls, aus dem Vließe der Ziegen aus Tibet, wovon jeder 15,000 Thaler gekostet hatte. Diese zwei prächtigen Shawls, so zart und fein, daß sie durch einen goldenen Fingerring sich ziehen ließen, brachte er seiner holden Rosa, und handelte mit ihr statt baaren Geldes. Sie wurden einig, und Rosa behielt das leicht Erworbene. Am dritten Tage nach diesem Handel gab sie ein großes Mittagsmahl, an welchem die[227] ersten Notabilitäten London's Theil nahmen. Graf E** war durch den Dienst am Hofe verhindert, weil am Abende dieses Tages die Verlobung der Prinzessin Charlotte mit dem Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg gefeiert werden sollte.

Wer hätte damals an ein so schnelles und schmerzliches Ende dieser liebenswürdigen Prinzessin gedacht! W.A. Gerle in seinem Werke: »Großbritannien und Irland,« nach Depping, aus dem Französischen, sagt: daß die öffentliche Stimme behaupte, eine schlecht berechnete Behandlung der Arzte und der Mangel nöthiger Vorsichtsmaßregeln habe zu diesem Unglücke beigetragen. Ein schrecklicher Gedanke! Der Tod dieser liebenswürdigen Thronerbin von England war also keine unbedingte Naturnothwendigkeit, an welcher die Kunst ärztlicher Umsicht scheiterte, sondern ein beklagenswerthes Ereigniß, ähnlich der Wegnahme eines schlecht vertheidigten Platzes, dessen Befehlshaber vor Gericht gestellt zu werden pflegen.

Das Schloß Claremont, jenseits des Parkes von Richmond, steht nun traurig und verlassen, seitdem diese Königsperle in der Krone von England in den Staub zerfiel. Man sieht dort noch eine Hütte, welche die junge Prinzessin nach ihrer eigenen Idee für ein alte Magd einrichten ließ, die den verschiedenen, aufeinander folgenden Gebietern von Claremont gedient hatte.

Die alte Gräfin E** wollte nun bei dieser feierlichen[228] Gelegenheit der Verlobung einen von ihren prächtigen Shawls, umhängen, um alle Hofdamen dadurch in Verzweiflung zu bringen. Die Kammerdienerin wird nach der Garderobe geschickt, – die Shawls waren ausgeflogen. Nun ging's los! Da kam der Herr Graf E** in großer Galla zur Thüre heein, und empfing sogleich den ersten Ausbruch ihrer Wuth.

»Nur ruhig, mein liebes Kind,« tröstete er sie, »ich vergaß Dir zu sagen, daß die H.v.W. mich gestern bitten ließ, diese Shawls ihr zur Einsicht zu senden. Es ist in der That unartig von der Lady, daß sie nicht an das Zurückstellen denkt, und ich werde mir sogleich die Freiheit nehmen, sie daran erinnern zu lassen.«

Nun entfernte er sich aus dem Zimmer, und trug seinem vertrauten Kammerdiener auf, sogleich zur Rosa zu gehen, und ihr mitten in der Gesellschaft, von der sie umgeben seyn möchte, ganz laut zu sagen: »Graf E** lasse sie um gefällige Rücksendung der beiden Shawls bitten, die er ihr auf Verlangen zur Einsicht geschickt habe.«

Der gewandte Botschafter hielt sich genau an die Worte seines Gebieters, als er Rosa eben an der reichbesetzten Tafel traf, wozu sie die ausgezeichnetsten Männer und Frauen geladen hatte, unter welchen sich Canning, Landsdown, Lord Holland, Brougham, Sir Francis Burdett u. A. befanden.

Rosa erröthete über diesen unverschämten Antrag um[229] so mehr, als sie vor wenig Augenblicken die anwesenden Damen durch das Vorzeigen dieser Shawls, als erhaltener Geschenke, ganz entsetzlich geärgert hatte. Das Naserümpfen und Hohnlächeln dieser englischen dürren Schlangen schnitt ihr durch die Seele.

Eanning nahm für sie das Wort: »Ich kenne diesen alten Pantoffellord sehr wohl, der die City pflastern könnte, wenn jeder seiner dummen Streiche ein Stein wäre. Sicher ist ihm wieder sein alter Hausdrache auf den Nacken gestiegen, und da weiß nun Se. Herrlichkeit in der Klemme kein anderes Rettungsmittel.«

Die Aergste unter den Damen machte ihrer Bosheit mit honigsüßen Worten Luft, und sprach: »Die schöne Rosa sagte uns ganz bestimmt, die beiden Shawls seyen Geschenke; verhält es sich so, woran ich nicht zweifle, so handelt Lord E** niederträchtig, und es wäre sehr zu wünschen, daß Rosa ihr Eigenthumsrecht vor Rücksendung der Shawls nachweisen möge. Die allgemeine Verachtung werden wir dann ausschließend der wortbrüchigen Herrlichkeit zuwenden.«

Das Wort: »ausschließend« jagte unserer Rosa das Blut in die Wangen; ihre gewöhnliche Gemüthsruhe wich von ihr, und alle Umstände vereinigten sich, sie zu einer durchgreifenden Rechtfertigung zu bestimmen. Der Kammerdiener harrte im Vorgemache.

»Ich werde sogleich die Ehre haben, meine Damen,«[230] sprach Rosa mit strafenden Blicken, »Ihnen mein Eigenthumsrecht klar zu beweisen, und mit diesem Beweise die Artigkeit zu verbinden, den Wunsch Sr. Herrlichkeit zu erfüllen.«

Fanny empfing Rosa's Befehle.

Auf einem Nebentische wurde sechsfaches Packpapier ausgebreitet, auf welches Fanny die beiden Shawls legte, dann brachte Betty auf einer silbernen Schaufel zwei kleine glühende Kohlen, welche Rosa in die Mitte der beiden Shawls, gleichsam wie feurige Schildwachen postirte.

Die Damen stießen bei diesem Anblicke einen Schrei des Entsetzens aus.

Dann rollte Rosa das Packet dicht zusammen, ließ es mit Bändern fest schnüren, und übergab es dem Kammerdiener des Grafen E** mit den Worten: »Empfehlen Sie mich dem Herrn Grafen, und sagen Sie ihm, daß er in dieser Sendung den warmen Antheil nicht verkennen möge, den ich an der Erfüllung seiner Wünsche nehme.«

Mühsam hielten die Anwesenden ein schallendes Gelächter zurück, bis der Kammerdiener den Salon verlassen hatte; dann aber brach es wie ein Sturm los, und Rosa wurde mit Lobsprüchen über ihre sinnige Rache überhäuft. Am glücklichsten fühlten sich die Damen, weil nun durch die Vernichtung der beiden Shawls, der mögliche Aerger für immer verhütet war, sie jemals auf den Schultern einer beneidenswerthen Nebenbuhlerin prangen zu sehen.[231]

Die schönen Leserinnen mögen sich gefälligst die Empfindungen der Gräfin E** näher ausmalen, als der Herr Gemahl das Packet aufrollte, aus dessen Mitte sogleich eine Rauchsäule aufwirbelte. Sie hatte seit vielen Wochen das Gerücht von der Ankunft dieser beiden Shawls verbreiten lassen; alle Hofdamen starben vor Neid schon bei dem bloßen Vorherwissen eines so hohen Triumphes einer ihrer großen Reichthümer wegen ohnehin verhaßten Dame.

Welchen Spöttereien war sie nun ausgesetzt! Allein dabei blieb's nicht! Graf E**, obgleich ein großer Rechtsgelehrter, konnte die Frau Gemahlin doch nicht recht überzeugen, daß dieses Unheil ein natürliches Ereigniß sey; zum Glücke durfte er's auch nur bei dem einfachen Versuche bewenden lassen, denn die alte Koquette zankte nicht lange. Das furchtbare Schicksal brach ihr das Herz; sie fiel von einer Ohnmacht in die andere, und nach der letzten in die Gruft ihrer Ahnen. Der alte Herr war über diesen unverhofften Verlust seiner Frau gerade so traurig, als es die Schicklichkeit erforderte, und der Wunsch zuließ, seine geliebte Emmy zu heirathen, eine geheime Maitresse, die früherhin eine Figurantin bei dem Ballete war, und den alten Sünder durch allerlei Figuren geködert hatte. Ein Jahr darauf stand diese berüchtigte Dirne als Lady E** am Ziele ihrer kühnsten Erwartung.

Rosa fand nach diesem Vorfalle kein Vergnügen mehr in London, Entschließen und Reisen war bei ihr immer[232] Sache des Augenblickes, und innerhalb 36 Stunden war sie bereits auf französischem Boden, um so schnell als möglich nach der wahren Hauptstadt der Welt, in Bezug auf Lebensgenuß, zu kommen, – nach

Quelle:
Friedrich Wilhelm Bruckbräu: Mittheilungen aus den geheimen Memoiren einer deutschen Sängerin. Zwei Theile, Band 2, Stuttgart 1829, S. 223-233.
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