Zweite Liebe

[42] 1. Ich wohnte hinten nach dem Hof hinaus,

Mir gegenüber stand ein altes Haus.


Das alte Haus, das hat der Fenster viel,

Doch eins war meiner Augen stetes Ziel.
[42]

Denn an dem Fenster, blumenüberdeckt,

Saß jeden Tag ein Mädchen halbversteckt.


Sie las – begoß die Rosen; -– hie und da

Ihr schmachtend' Aug' zu mir herübersah.


Da klebt' ich an mein Fenster, halb im Scherz,

Aus Rosaglanzpapier ein flammend Herz.


Sie aber wandte sich. – Mit weißer Hand

Spielt' sie an ihrem losen Busenband.


Und träumerisch, als wär' es aus Versehn,

Ließ sie die Schleife aus dem Fenster wehn.


Ich hob sie auf, ich küßt' sie tausendmal.

Mein Visavis war auch mein Ideal.


2. Auf Promenaden sahen wir uns nie;

Doch schrieb sie mir, und ich, ich schrieb an sie.


Viel Liebes und viel Schönes schrieb sie mir

Auf goldumsäumtem Rosapostpapier.


Doch eins – dies eine sollte uns entzwei'n,

Eins schrieb sie nicht. – Sie hatt' ein kurzes Bein.


Quelle:
Wilhelm Busch: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I-IV, Band 1, Hamburg 1959, S. 42-43.
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