Der Sohn der Witwe

[245] (Litauisch)


Her zogen die Schwäne mit Kriegsgesang:

Zu Roß, zu Roß! es dröhnend erklang.


Es reiten aus allen Höfen umher

Die jüngern Söhne zum Kriegesheer.


Es ist mit uns gar schlimm bestellt,

Und keiner bleibt, wenn einer sich stellt.


Du ziehst, mein Bräut'gam, mein Bruder, mein Sohn,

Du ziehst in den Krieg, das wissen wir schon.


Wir Frauen bedienen den Kriegesknecht,

Den Helmbusch steckt die Braut dir zurecht,


Den Rappen führt die Schwester dir vor,

Dir öffnet die Mutter des Hofes Tor.


Wann kehrst du, mein Bräut'gam, mein Bruder, mein Kind,

Wann kehrst du zurück? das sag uns geschwind. –


Sind Luft und Wasser und Land erst frei,

Dann säum ich nicht länger, dann eil ich herbei. –


Und Luft und Wasser und Land sind frei,

Was säumt er noch länger, und eilt nicht herbei?


Wir Frauen, wir wollen entgegen ihm gehn,

Wir wollen vom Hügel entgegen ihm sehn.


Dort harren die Frauen und lauschen zu Tal

Die Straße entlang im Sonnenstrahl.
[245]

Und auf und nieder die Sonne steigt,

Kein Reitersmann dem Blicke sich zeigt.


Jetzt hebt sich Staub, jetzt kommt im Lauf

Ein Rappe daher – kein Reiter sitzt drauf.


Sie fangen ihn ein, sie fragen ihn aus:

Wie kommst du, mein Rappe, doch ledig nach Haus?


Bist, schlechter Gaul, dem Herrn du entflohn?

Wo blieb mein Bräut'gam, mein Bruder, mein Sohn?


Sie haben erschossen ihn in der Schlacht,

Auf grüner Heide sein Bett ihm gemacht.


Mich ließen sie laufen in alle Welt,

Ich habe die Botschaft trauernd bestellt.


Es zogen drei Schwäne mit Klaggesang,

Ein Grab zu suchen, die Heide entlang.


Sie ließen sich nieder, wie sie es ersahn,

Zu Füßen, zu Haupte, zur Seite ein Schwan.


Zu Haupte die Schwester, zu Füßen die Braut,

Zur Seite die Mutter, hoch ergraut:


O wehe, weh, Verwaisten uns drei'n!

Wer stimmt in unsre Klage mit ein?


Darauf die Sonne, sich neigend, begann:

Ich stimme mit ein, so gut ich kann.


Neun Tage traur ich in Nebelflor,

Und komm am zehnten nicht hervor.


Die Trauer der Braut drei Wochen war,

Die Trauer der Schwester, die war drei Jahr,


Die Mutter hat der Trauer gepflegt,

Bis müde sie selbst ins Grab sich gelegt.
[246]

Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 245-247.
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