Recht empfindsam

[217] Tochter


Meine teuren Eltern, habt Erbarmen,

Laßt mein Leid erweichen euren Sinn,

Nähm ich diesen Mann, in seinen Armen

Welkt ich, zarte Blume, bald dahin!


Vater


Mutter, sieh, wie sie sich zieret!

Hör, du dumme Trine, du,

Einen Mann sollst du bekommen,

Greif mit beiden Händen zu.


Tochter


Rauher Wirklichkeit nur mag er frönen;

Ohne Zartheit, ohne Poesie,

Ungebildet, kann er nur mich höhnen,

Mich verstehen, nein, das wird er nie!


Vater


Mutter, die verfluchten Bücher

Müssen ihr den Kopf verdrehn.

Waren wir denn je gebildet?

Konnten wir uns je verstehn?


Tochter


Wo die Herzen fremd einander blieben,

Knüpft ihr nicht ein gottgefällig Band;

Weder achten kann ich ihn, noch lieben,

Nimmermehr erhält er meine Hand!


Vater


Mutter, hör die dumme Trine,

Hör doch, was es Neues gibt!

Haben wir uns je geachtet?

Haben wir uns je geliebt?


[217] Tochter


Lieber will ich in ein Kloster fliehen,

Gibt's kein Kloster, in mein frühes Grab;

Wohl denn! dieser Schmach mich zu entziehen,

Stürz ich in die Wellen mich hinab!


Vater


Hast du endlich ausgeredet?

Gut, du bleibst mir heut zu Haus,

Hältst dein Maul und nimmst den Bengel,

Punktum, und das Lied ist aus.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 217-218.
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