Francesco Francias Tod

[462] Francesco Francia war zu seiner Zeit

Italiens Stolz, gerühmt von allen Zungen

Als Aurifex und Maler weit und breit.

Zu ihm, dem Alten, ist der Ruf gedrungen

Vom jungen Römer, welcher sonder Gleichen

Sich früh gar hohen Künstlerruhm errungen.

Zwar konnt er noch zu sehen nicht erreichen

Ein Werk von ihm, doch haben sie geehret

Einander und gewechselt Freundschaftszeichen.

Ihm wird die Freude jetzt, die er begehret;

Sieh! jener schreibt: »Mein Bitten werde mir

Von meinem väterlichen Freund gewähret.

Ich käme selbst, doch andres hält mich hier;

Mein Bild für die San Giovanni Kapelle,

Die heilige Cäcilie, send ich dir.

Vertritt, mein lieber Meister, meine Stelle,

Sieh helfend nach, ob Schaden es bekommen,

Ein Riß, ein Fleck das zarte Werk entstelle;

Und hast den Pinsel du zur Hand genommen,

Verbeßre du zugleich auch liebevoll,

Wo selber meine Kunst zu kurz gekommen.

Dann stell es auf, das Bild, da wo es soll,

Mit Liebe sorgend für das beste Licht,

Und nimm entgegen meines Dankes Zoll![462]

Dein Raffael.« – Der Meister schnell erbricht

Die Kiste, zieht das Bild hervor und rückt

Es sich ins Licht und sieht, und glaubt es nicht.

Er steht davor erschrocken und entzückt,

Erfüllet ist, was seine Träume waren,

Er fühlt sich selbst vernichtet und beglückt.

»Heil mir! und Preis dir, Herr! der offenbaren

Du solches noch gewollt in meinen Tagen;

Nun laß in Frieden deinen Diener fahren.«

Die Jünger hörten ihn die Worte sagen,

Den letzten Laut aus seinem frommen Munde;

Nicht Antwort gab er mehr auf ihre Fragen:

Es war des alten Francias Sterbestunde.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 462-463.
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