IV. Das Begräbniß.

[90] Ich will es nicht versuchen, o René, dir jetzt noch die Verzweiflung zu schildern, die mein Gemüth ergriff, nachdem Atala ihren letzten Seufzer ausgehaucht. Dazu gehört mehr Feuer, als mir noch übrig geblieben ist; meine jetzt geschlossenen Augen müßten sich dem goldnen Gestirn des Tages wieder öffnen, um Rechenschaft von ihm zu fordern für die Thränen, die sie bei seinem Lichte vergossen. Ja, der Mond, der in diesem Augenblick ob unsern Häuptern glänzt, wird müde werden, die Wildnisse von Kentucky zu beleuchten, der Fluß, der unsre Piroguen trägt, still[90] stehen in seinem Lauf, ehe meine Thränen ermüden werden, um Atala zu fließen. Während zweier ganzen Tage hatte ich kein Ohr mehr für die Reden des Eremiten. Dieser treffliche Mann bediente sich keiner irdischen Trostgründe, um meinen Schmerz zu lindern; er begnügte sich mir zu sagen: Mein Sohn, es ist der Wille Gottes, und damit schloß er mich in seine Arme. Nie hätte ich geglaubt, daß so viel Trost in so wenigen Worten eines gottergebenen Christen läge, hätt' ich es damals nicht selbst empfunden.

Die Zärtlichkeit, die Salbung, die unerschütterliche Geduld des greisen Priesters besiegten endlich meinen unbezähmbaren Schmerz. Ich schämte mich zuletzt der Thränen, die er um mich vergoß. Mein guter Vater, sagte ich zu ihm, das ist zu viel; die stürmischen Leidenschaften eines Jünglings sollen dir deine Tage nicht ferner trüben. Laß mich die Ueberreste meiner geliebten Braut mit mir nehmen, ich will sie in einem Winkel der Wildniß begraben, und wenn ich selbst noch länger zu leben verurtheilt bin, so will ich der himmlischen Vermählung würdig zu werden suchen, welche mir Atala verheißen hat.

Bei dieser ihm gänzlich unerwarteten Rückkehr meines frischen Muths zitterte der gute Pater vor Freude: O heiliges Blut Christi, rief er aus, o Blut meines göttlichen Meisters, hieran erkenne ich dein Verdienst! Gewiß läßt du mit der Zeit auch diesem Jüngling das Licht deiner Gnade leuchten! Mein Gott, vollende dein Werk. Gieb diesem vom Sturm der Leidenschaften empörten Gemüthe den Frieden wieder, und laß ihm nur das demüthig fromme und heilsame Andenken an seine überstandenen Leiden!

Die theuern Reste meiner Atala überließ mir der Gerechte nicht, sondern schlug mir vor, die Kinder seines kleinen jungen Pfarrsprengels herbeizurufen, und die Tochter des Lopez mit dem ganzen Gepränge der christlichen Kirchengebräuche zu begraben. Dagegen erhob nun ich wieder Einsprache. Das Unglück und die Tugenden Atalas, sprach ich, sind den Menschen fremd geblieben; möge auch ihr von unsern Händen in stiller Einsamkeit bereitetes Grab die nämliche Dunkelheit decken! – Wir kamen mit einander überein, uns den andern Morgen mit Anbruch des[91] Tages auf den Weg zu machen, um Atala unter dem Bogen der Brücke am Eingange des Todtenhains zu begraben; auch beschlossen wir die Nacht bei dem Körper dieser Heiligen im Gebete zu durchwachen.

Gegen Abend trugen wir ihre kostbaren Ueberreste vor die nördliche Oeffnung der Grotte. Der Einsiedler hatte sie in ein Stück europäischer Flachsleinwand gewickelt, welches ihm seine eigene Mutter gesponnen; sie war das einzige Gut und die einzige Habe, die ihm noch aus seinem Vaterland geblieben, und seit langer Zeit war sie für sein eigenes Grab bestimmt gewesen. Atala lag auf einem Rasen von Gebirgsmimosen; ihre Füße, ihr Haupt, ihre Schultern und ein Theil ihres Busens waren entblößt. Ihr Haar schmückte eine welke Magnoliablume; es war die nämliche, die ich selbst noch auf das Lager der Jungfrau gelegt, um sie fruchtbar zu machen. Ein wehmüthig sanftes Lächeln umschwebte ihre Lippen, die einer seit zwei Morgen gepflückten Rosenknospe glichen. Auf ihren Wangen, rein wie der Schnee im Mondenglanz, unterschied man einige blaue Adern. Ihre schönen Augen waren geschlossen; ihre sittsamen Füße waren übereinandergelegt, und ihre Alabasterhände drückten ein Crucifix von Ebenholz an die Brust; das Scapulier des Gelübdes hing an ihrem Halse. Der Engel der Schwermuth und der doppelte Schlaf der Unschuld und des Grabes schienen sie verzaubert zu haben. Nie habe ich etwas Himmlischeres gesehen. Wer nicht wußte, daß diese holde Gestalt einmal gelebt, der mußte sie für das Werk eines Bildhauers, für das Bild der schlummernden Jungfräulichkeit halten.

Der Geistliche betete ohne Unterlaß die ganze Nacht hindurch; ich saß schweigend am Todtenlager meiner Atala. Wie oft hatte ich, wenn sie schlief, ihr schönes Haupt auf meinen Knien gewiegt! Wie oft hatte ich mich über sie hingeneigt, um ihren Athem zu hören und in mich zu saugen! Ach, jetzt kam kein Laut mehr aus diesem unbeweglichen Busen, und vergebens erwartete ich jetzt das Erwachen der Schönheit.

Der Mond warf seine bleichen Strahlen auf diese Todtenwacht. Er erhob sich in der Nacht wie eine Vestalin, die da an[92] der Bahre einer Gefährtin weint. Bald verbreitete er in den Urwäldern jenes heilige Geheimniß der Schwermuth, das er so gerne den bejahrten Eichen und den einsamen Gestaden des Meeres erzählt. Von Zeit zu Zeit tauchte der Priester einen Blüthenzweig in geweihtes Wasser, besprengte damit die Leiche, und erfüllte so die Nacht mit dem Balsamduft des Himmels. Bisweilen sang er nach einer uralten Melodie folgende Strophen eines Dichters der Vorwelt, Job war sein Name:

Ich bin verblüht wie eine Blume, ich bin hingewelkt wie das Gras des Feldes.

Warum ist das Licht dem Elenden gegeben worden, und das Leben denen, deren Herzen voll Trübsal sind?

So sang der Greis; seine tiefe, klangvolle Stimme scholl mächtig hin durch das Schweigen der Wildniß; den Namen Gottes und des Grabes riefen rings die Echo's, riefen rings die Ströme und die Wälder nach. – Die girrenden Töne der Virginiatauben, das Rauschen der Waldbäche, und das Läuten der Glocke, welche von Zeit zu Zeit erklang, um fremden Reisenden zum Zeichen zu dienen, schmolzen zusammen mit den Todtengesängen, und man glaubte in dem Hain des Todes den fernen Chor der Abgeschiedenen zu vernehmen, welcher der Stimme des Einsiedlers antwortete.

Inzwischen wurden im Ost schon die ersten goldenen Streifen sichtbar; die Sperber schrien auf den Felsen, und die Marder kehrten in ihre Löcher zurück im hohlen Stamm der Ulmen; es war die Zeit zu Atalas Begräbniß. Ich lud die theure Todte auf meine Schultern, und der Einsiedler schritt vor mir her, eine Schaufel in der Hand. Wir stiegen von Felsen zu Felsen hinab, das Alter und der Tod hemmten in gleichem Maß unsere Schritte. Bei dem Anblick des Hundes, der uns im Walde gefunden, und der nun unter Freudensprüngen uns einen ganz andern Weg zeigte, zerfloß ich in Thränen. Oft warf das lange Haupthaar Atalas, mit dem der Morgenwind spielte, seinen goldenen Schleier um meine Augen; oft, wenn ich unter der Schwere meiner Last fast erlag, war ich genöthigt, sie ins Moos niederzulegen und bei[93] ihr auszuruhn, um neue Kräfte zu sammeln. Endlich kamen wir an der Stelle an, welche mein Schmerz sich erwählte; wir stiegen unter das Gewölbe der Brücke hinab. O mein Sohn, das war ein Bild, wie da in der Wildniß ein junger Wilder und ein greiser Einsiedler einander auf den Knien gegenüber lagen, und ein Grab gruben für eine arme Jungfrau, deren selbst im Tod noch himmlisch schöner Körper nahe dabei im Bett eines Gießbachs lag.

Als wir zu Ende waren mit unserer Arbeit, trugen wir die Schönheit in ihr Bett von Erde. Ach, ich hatte ihr ein anderes Lager zugedacht in meinen Träumen! Dann nahm ich eine Handvoll Staub und heftete in dumpfem Schweigen zum letztenmal meine Blicke auf Atalas Antlitz. Endlich streute ich die Erde des Schlafes auf die Stirn von achtzehn Lenzen, und sah, wie nach und nach Atalas Gesichtszüge unsichtbar wurden, und wie ihre Anmuth mehr und mehr unter dem schwarzen Schleier der Ewigkeit verschwand; ihr Busen nur sah noch einige Zeit aus dem schwarzen Grund hervor, wie eine Lilie aus dunkelm Thon. Lopez, rief ich nun, schau, wie da dein Sohn deine Tochter begräbt! und bedeckte Atala vollends mit der Erde des Schlafes.

Wir kehrten zur Grotte zurück, und ich theilte dem guten Priester meinen Entschluß mit, für immer bei ihm zu bleiben. Der Heilige, ein Kenner des menschlichen Herzens wie Wenige, durchschaute meine Absicht und die List, welche mein Schmerz ersonnen. Schakta, Sohn des Outalissi, sagte er zu mir, so lange Atala lebte, hab' ich dich selbst gebeten, bei mir zu bleiben; jetzt ist die Sache jedoch eine andere, und dein Vaterland ruft dich zurück. Glaube mir, mein Sohn, die Schmerzen sind nicht ewiger Natur; sie müssen früher oder später enden, weil das Herz des Menschen auch endlich ist. Es gehört zu unsern Unvollkommenheiten, daß wir nicht einmal fähig sind, uns längere Zeit unglücklich zu fühlen. Kehre in deine Heimat, an den Strand des Meschacebe, zurück, tröste deine Mutter, die Tag und Nacht um dich klagt, und die sich nach deiner Nähe und deiner treuen, kindlichen Pflege sehnt. Laß dich in der Religion deiner Atala unterrichten, sobald es in deiner Macht steht, und erinnere dich, daß du ihr auf dem Sterbebett versprochen hast, tugendhaft zu bleiben und Christ[94] zu werden. Ich will hier an Atalas Grabe wachen. Geh, mein Sohn! Gott, der Geist deiner Schwester, und die innige Theilnahme und Freundschaft des greisen Paters Aubry werden dir folgen.

So sprach der Mann des Felsens. – So mächtig war der Eindruck, den jedes Wort seines Mundes auf meine Seele machte, und von einer so tiefen Ehrfurcht vor seiner Einsicht war ich durchdrungen, daß ich ihm ohne Widerrede gehorchte. Schon den andern Morgen verließ ich meinen edeln Gastfreund, der mich unter Thränen an sein Herz drückte, und mir noch seinen letzten Rath, seinen letzten Segen ertheilte. Ich begab mich noch einmal zu meinem theuern Hügel, und war überrascht, ein kleines Kreuz darauf zu finden, welches sich aus der Nacht des Todes erhob, gleichwie sich aus der Flut empor oft noch der Mast eines untergegangenen Wraks erhebt. Ich schloß daraus, daß der Einsiedler während der Nacht am Grabe gebetet habe. Dieser Beweis von Freundschaft und tiefer Religiösität rührte mich bis zu Thränen. Es kam mir der Gedanke, mir die theuern Reste wieder heraus zu graben, um meine Geliebte noch einmal zu sehen; doch eine heilige Scheu hielt mich davon zurück. Ich setzte mich auf die frisch aufgeworfene Erde. Einen Arm auf die Kniee gestützt und das Gesicht mit der Hand zugedeckt, versank ich in die tiefste Schwermuth. Hier, o René! stellte ich zum erstenmal ernsthafte Betrachtungen über die Eitelkeit der Welt und die noch bei Weitem größere Eitelkeit unserer Pläne und Entwürfe an. Ach, mein Sohn, wer hat sich nicht schon einmal solchen Betrachtungen überlassen? Ich bin nunmehr ein greiser, von dem Schnee vieler Winter graugewordener Hirsch; meine Jahre wetteifern mit denen der Krähe; und dennoch, trotz den über mein Haupt hinweggegangenen Tagen, trotz meiner langen Lebenserfahrung, habe ich noch keinen Menschen gefunden, den nicht das Traumbild seines Glückes schmerzlich betrog, dem nicht von heimlichen Wunden die Seele blutete! Das dem Anschein nach heiterste Gemüth gleicht einer jener natürlichen Cisternen im Grün der Sawannen von Alachua; von obenher gesehn erscheint sie ruhig und klar; blickt man jedoch länger und tiefer hinunter, so gewahrt man mit Schrecken ein gräßliches[95] Krokodil, welches der Quell der Steppe an seinem Grund ernährt.

Nachdem ich so noch einen ganzen Tag einsam an diesem Ort des Grams zugebracht, schickte ich mich an, am folgenden Morgen mit dem ersten Schrei des Storches die heilige Ruhestatt meiner Geliebten zu verlassen. Ich entfernte mich von ihr wie von dem Markstein, von dem aus ich mir die Laufbahn eines neuen Lebens der Thätigkeit und schöner Tugenden zu betreten vornahm. Dreimal rief ich der Seele Atalas, und dreimal antwortete der Genius der Wildniß meiner Stimme unter dem Todtengewölbe. Dann wandte ich mich gegen Morgen und entdeckte auf dem fernen Gebirgspfad den Eremiten, der sich an das Sterbebett eines Unglücklichen begab. Ich fiel jetzt noch einmal auf meine Kniee nieder, umfaßte den Grabeshügel und rief: O schlummre in Frieden in dieser fremden Erde, du meine allzuunglückliche Atala! Zum Lohn für deine Treue, für die Schmerzen des Exils und deinen frühen Tod läßt jetzt selbst Schakta treulos dein Grab im Stiche! – Unter einem Strom von Thränen trennte ich mich endlich von der Tochter des Lopez; ich riß mich von dem Orte los, und ließ am Fuße dieses Denkmals der Natur ein noch erhabeneres Denkmal zurück: das bescheidne Grab reiner und einziger Tugenden.

Quelle:
[Chateaubriand, François René, Vicomte de]: Chateaubriands Erzählungen. Leipzig und Wien [1855], S. 90-96.
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