Dritter Brief

[679] Du hast recht, Andres, die Frage: wie ein gutes Gewissen möglich sei, ist so leicht nicht beantwortet; und je länger man darüber nachdenkt, desto schwerer und schwieriger wird das Antworten.

Mancher spricht von einem guten Gewissen, wenn er sich keiner Schand- und Freveltat bewußt ist. Aber das gute Gewissen hängt nicht sowohl mit einzelnen Handlungen, als mit der ganzen inwendigen Gestalt und Verfassung des Menschen zusammen.

Adam war zum Bild Gottes erschaffen, und sein Gesetz war: Gott anzuhangen, und ihn über alles zu fürchten, zu lieben und[679] zu vertrauen. Als er seine Freiheit mißbrauchte, und etwas anderm mehr anhing und vertraute, ward er dem sinnlichen Gesetz unterworfen. – Und »er zeugte Söhne und Töchter, die seinem Bilde ähnlich waren«.

In dieser Verfassung des Menschen aber, wo er nämlich dem sinnlichen Gesetz unterworfen und untenan ist, in dieser Verfassung ist ein jeder Akt, in Gedanken, Worten und Werken, dem bessern Gesetz in ihm zuwider und entgegen; und macht also böses Gewissen. Wie ist denn ein gutes möglich, und wie kann es bei ihm statthaben?

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 679-680.
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