IV

[284] Sire, wenn es nie keine tugendhafte Menschen gegeben hätte, ich wäre erlegen und hätte verzweifelt, bei der Übergewalt des Erdschattens in unsern Herzen. – Aber diese große Menschen haben mich gelehrt, daß die menschliche Seele unsterblich sei, und unüberwindlich wenn sie es sein will und nur den Mut hat sich ihrer edlen Haut zu wehren.

Und diese ihre Unsterblichkeit kommt uns nun überall entgegen, und an allen Ecken wo wir nur den Zipfel aufheben und sie berühren.

Sie hat einen innerlichen Trieb, ein angebornes Verlangen unsterblich zu sein. Dies Verlangen äußert sich freilich selten auf eine reine Art, und die Unsterblichkeit, nach der wir Menschen streben, ist die meiste Zeit sehr sterblich. Das aber ist nur ein Irrtum in der Anwendung, und das Verlangen ist nichtsdestoweniger da.

Allemal wo wir einen angebornen Trieb finden der nach einer Sache treibt, finden wir auch eine konveniente Disposition und Übereinstimmung zwischen beiden, so daß der Trieb befriedigt werden, oder eine Vereinigung geschehen kann. Wie könnte die Natur auch so irren, und Triebe zu unmöglichen und wiedersprechenden Dingen geben? Aber die Vereinigung kann nicht allein geschehen, sondern sie soll nach der Natur der Sachen auch geschehen, und würde geschehen, wenn ihr kein Hindernis[284] im Wege wäre; und der Trieb ist im Grunde nichts anders als die Empfindung dieses Verhältnisses bei den Dingen die Empfindung haben, und das Verhältnis selbst bei denen die sie nicht haben.

Im Mittelpunkt der Erde z.E. haben die Körper keine Schwere; wenn ich aber eine Kugel an einem Faden aufhänge, auf die Hand oder auf sonst etwas lege, so drückt sie in grader Linie gegen den Mittelpunkt der Erde, denn sie wird gehindert dahin zu kommen. Ein Gewächs, eine Pflanze, die in freier Luft steht, wächst und steht aufrecht; stelle ich sie aber ins Zimmer, daß also die Einflüsse der Luft und Sonne gehindert werden, sie, wie es sein sollte, von oben frei zu treffen, so beugt sie sich gegen das Fenster. Wenn ein Fisch im Wasser ist, so hat er kein Verlangen nach dem Wasser, sondern läßt sich's wohl darin sein; wirft man ihn aber aufs Land, so fühlt er daß er nicht ist wo er seiner Natur nach sein sollte, und springt und zappelt.

Wenn also wir Menschen ein angebornes Verlangen nach Unsterblichkeit haben; so ist klar, daß wir, in unsrer itzigen Lage, nicht sind wo wir sein sollten. Wir zappeln auf dem Trocknen, und es muß irgendwo ein Ozean für uns sein.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 284-285.
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