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[285] Und dies setzt denn die Idee: von Unsterblichkeit und einem unendlichen Wesen etc., die in uns ist, vollends außer Zweifel. Der Mensch hat offenbar diese Idee, denn alle Völker sprechen von einem Gott! Und woher hat er sie? – Die ganze Natur mit allem was in ihr ist kann sie ihm nicht geben.

Man sagt zwar, der Mensch habe sich aus den tausend endlichen Halmen eine unendliche Garbe zusammengebunden, er steige auf den Begriffen endlicher Dinge, wie auf einer Leiter, zu dem Begriff des Unendlichen hinauf etc. Aber erstlich ist das gewiß, daß sich aus endlichen Halmen kein unendliches Ganze machen läßt, und was die Leiter anlangt, die, wie sie hier steht, ziemlich kurz und unsicher ist, so muß einer vorher schon wissen wo er hinsteigen will ehe er die Leiter ansetzt. Man zerstückele einmal den Äquator in 1000000 Teile, und gebe sie jemand hin der nie von einem Zirkel gesehen oder gehört hat, ob er wohl eine Peripherie daraus zusammenbringen sollte. Und das Gleichnis hinkt gewaltig.

Alle Bilder, die in die Sinne fallen und so in den Menschen[285] kommen, können ihm jene Idee nicht geben; denn was einer nicht hat kann er auch nicht geben.

Aber, am Ende finden doch die Menschen Gott aus der Natur; die Philosophen beweisen ihn daraus, und andre Leute sehen die Sonne und Himmel und Erde an, und denken: das muß ein großer Herr sein der sie gemacht hat. Es muß also die Idee des Unendlichen durch das Endliche doch veranlaßt werden können.

Allerdings, Sire, allerdings kann der endliche sichtbare Vorhang die Menschen an einen unsichtbaren unendlichen, der hinter ihm steht, erinnern, und gewißlich ist er dazu niedergelassen, und gebe Gott, daß er für keinen Menschen umsonst niedergelassen sei. Aber darum bleibt es ewig wahr, daß die endlichen Dinge diese Idee nicht geben können.

Wenn das Bild eines Baums, eines Jägers, und andre Bilder der äußern Natur ins Wasser fallen, so veranlassen sie darin kein Bewußtsein; wenn aber dieselben Bilder in das Auge einer Ente die auf dem Wasser sitzt oder andern Tiers fallen, so veranlassen sie ein Bewußtsein dieser Bilder. Warum? – Das Tier hatte schon die Fähigkeit, und sie wird durch die Bilder nur bewegt und modifiziert. Die äußre Natur veranlaßt bei den Tieren die Idee des Unsterblichen des Unendlichen nicht etc. aber beim Menschen tut sie es. Also –

Es hat neulich ein sehr scharfsinniger Philosoph51 gezeigt, wie nur das Bedingte eigentlich demonstriert werden könne, und wie: das Unbedingte demonstrieren wollen, gradesoviel sei, als die Perle erst ins Wasser hineinwerfen, um sie dann wieder herauszufischen; und er sagt sehr recht, »daß das Unbedingte auf keine andre Weise von uns angenommen werden könnte, als es uns gegeben ist, nämlich als Tatsache – es ist.«

Ich frage nun, wie ist es uns als Tatsache gegeben? – Entweder das Unbedingte muß es unsrer Seele selbst geben, oder sie muß die Idee in sich haben. In beiden Fällen steht es um ihre Unsterblichkeit sehr wohl. Ich will aus Bescheidenheit nur den letzten Fall annehmen.

Die Idee von Unsterblichkeit und dem Unendlichen etc. ist also inwendig im Menschen, und die sinnliche Welt, die sie ihm nicht geben konnte, kann sie ihm auch nicht nehmen; und da diese Idee in ihm von den Eindrücken der sinnlichen Welt nicht abhängt, so würde sie in ihm sein, wenn keine sinnliche Welt[286] wäre, so wie sie in ihm sein könnte, ehe eine sinnliche Welt ward, und wenn keine mehr sein wird, usw.

Fangen Ew. Majestät nicht an, Land zu sehen, oder vielmehr das Land aus dem Gesicht zu verlieren und der offenen See gewahr zu werden?

Eine gleiche Bewandtnis hat es mit den andern Ideen: von einer höchsten Vollkommenheit, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte. Alle diese Ideen, die im Grunde in eins zusammenfließen, können dem Menschen durch die Eindrücke der sinnlichen Natur nicht gegeben worden sein, und doch sind sie in ihm, und schlummern mehr oder weniger.

Wenn ein Weizenkorn, das zu Wurzel, Fasern, Halm, Blatt, Ähre etc. den Keim in seinem Wesen hat, wenn das Bewußtsein hätte, würde es denn nicht von Wurzel, Fasern, Halm, Blatt, Ähre etc. träumen, und sich aller dieser Dinge bewußt sein, nämlich des das in ihm ist und aus ihm werden kann?

Wenn also der Mensch Ideen und Ahndungen hat von Unsterblichkeit, Unendlichkeit, höchster Weisheit, Gerechtigkeit, Güte; muß denn nicht der Keim zu dem allen in seinem Wesen sein? –

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 285-287.
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