VI

[287] Ein Wesen das den Keim der Unsterblichkeit in sich hat, kann nicht sterben. Ob wir nun gleich diesen Keim nicht sehen, so können wir doch, da wir seine Wahrzeichen so offenbar im Menschen finden, an seinem Dasein nicht zweifeln. Auch er ist nicht unwahrscheinlicher als der im Weizenkorn, und liegt nicht mehr im Dunkeln. Aber bei dem Weizenkorn haben wir die Erfahrung und das Faktum. Wenn damit gebührlich prozediert wird, so wird Wurzel, Halm, Ähre und alles was in ihm ist, würklich sichtbar und kommt zum Vorschein. Wenn wir auch solche Erfahrungen in ihrer Art hätten!

Ew. Majestät werden einsehen, wovon hier die Rede ist, und daß das nicht mehr vor der Tür sein würde. –

Doch es gibt auch vor der Tür noch Erfahrungen, die, ihres Orts, die Möglichkeit der Sache und ihre ersten Anfänge zeigen, und die drinnen alles vermuten lassen.

Erstlich haben wir die Erfahrung, daß dieser Keim durch die ärgste Mißhandlung im Menschen nicht kann vernichtet werden. Es ist freilich wahr, er kann in ihm, durch die entgegengesetzte[287] Kraft, nicht allein geschändet, entstellt und verungestaltet, sondern auch in seiner Tätigkeit so ganz und gar gehemmet und unter die Füße getreten werden, daß auch keine Spur von seiner Herrlichkeit übrigbleibt, und man sagt mit Recht von einem Menschen, der sich seiner Sinnlichkeit und allen ihren Lüsten und Bewegungen ohne Scheu und Scham hingibt, daß er sei wie ein Vieh und ohne Gott. Aber vernichtet ist der Keim darum in ihm nicht. Denn die allerverworfensten Menschen sind oft wieder zur Besinnung gekommen, und Nebukadnezar »der sieben Zeiten Gras aß wie Ochsen, dessen Leib unter dem Tau des Himmels gelegen und naß geworden war, bis sein Haar wuchs so groß als Adlersfedern, und seine Nägel wie Vogelsklauen wurden, hob seine Augen wieder auf gen Himmel und kam zur Vernunft, und lobte den Höchsten«.

Und auf der andern Seite haben wir die Erfahrung, daß durch eine beßre Behandlung dieser edle Keim mehr zum Vorschein kommt und seine Wahrzeichen sichtbarer werden. Und diese merkwürdige Erfahrung haben wir an den Tugendhaften, deren es freilich nicht viele, aber doch zu verschiedenen Zeiten hie und da einzelne gegeben hat.

Diese Menschen fühlten auch, wenn sie ihre Augen auf gen Himmel heben wollten, daß der edle in ihnen beherrscht werde und der unedle herrsche, und hätten die Sache gerne nicht abgesprochen sondern abgeändert. Da es nun nicht in ihrer Gewalt war, gradezu den edlen auf den Thron zu setzen, so taten sie »was in unsrer Gewalt ist« und kämpften ritterlich, den unedlen herunterzubringen. Sie verschmähten eine vergängliche Glückseligkeit, wandten ihr den Rücken und wollten sie nicht, und gingen so mit verbissenen Lippen und unverrücktem Ernst dem unvergänglichen Gut nach, ohne sich umzusehen, und ohne sich durch den Spott und die Weisheit der Spielleute irremachen zu lassen – und der Erfolg war frappant.

Konfuzius z.E., der unter diesen großen und ernsthaften Bemühungen grau geworden ist, und das Resultat davon, von zehn zu zehn Jahren, natürlich und umständlich erzählet, sagt im vierten Jahrzehn, daß schon in diesem Periodus seine Geisteskraft behende und sehr durchdringend52, und sein Herz sehr verändert und voll guter Gesinnungen gewesen sei, und fährt dann fort: »Endlich als ich 70 Jahr alt war, hatten die lang fortgesetzte [288] Betrachtung und Selbstüberwindung das in mir ausgerichtet, daß ich gradehin tat, was mein Herz begehrte, und doch tat ich nie nichts wider die Regel des Guten und des Gerechten welcher meine sinnliche Begierde itzo ohne Widerstreben und Unmut gehorchte.«53

Man stelle nun einen solchen Menschen und einen gewöhnlichen nebeneinander, und sehe den Unterschied. Den einen treiben und reißen seine Lüste und Begierden hin, wo er nicht hin will, und zu tun was nicht taugt; er hat nimmer Ruhe und keinen Frieden, und ist wie die Woge des Meers die in jedem Augenblick eine andre Gestalt hat und in allen Gestalten Wasser ist – und der andre ist immer was er sein will, immer derselbe Freud – und Friedenvolle, und sein Herz ist einem Tempel zu vergleichen, darin eine unsichtbare Gottheit wohnt und wo die heilige Stille durch keinen Laut unterbrochen wird, als der für die Wahrheit schallt und zum Lobe der Götter.

Es ist gleich auf den ersten Anblick um und in solchen tugendhaften Menschen etwas Großes und Ewiges; sie fühlen sich unsterblich an. Aber sie sind es auch.

Wenn die Zeit nichts ist als die Folge und der Wechsel verschiedener Dinge, so sind sie schon darum weniger zeitlich. Doch es muß etwas würklich und in sich Ewiges und Unsterbliches in ihnen sein; denn die Kraft, die in andern Menschen so allgewaltig und unwiderstehlich herrscht und so viel Unglück und Böses anrichtet, ist in ihnen gebändigt und liegt zu ihren Füßen. Und was anders als das Ewige und Unsterbliche kann das Zeitliche bändigen und bezwingen?

Wie sollte auch ein solcher sterben, und wodurch? – Diese Welt und Erde hat keine Gewalt mehr über ihn, ist für ihn als wäre sie nicht; und sie sollte ihn noch vernichten können? Er hat sie vernichtet! Und steht auf ihrem Nacken als ein Sieger!. und blickt frei nach dem Himmel empor.

Und dieser Himmel ist ihm nicht so weit weg und ferne, als andern Menschen.[289]

Eine sinnliche Bewegung durch die andre überwinden heißt nur: ein Laster gegen ein anderes verwechseln. Es muß denn bei dem Tugendhaften anders gestaltet sein. Zwar sein Herz ist tief, und es kostet viel ihm auf den Grund zu kommen. Das aber läßt sich bei einigem Nachsinnen absehen, daß seine Bewegungsgründe nicht in dieser Welt zu Hause sein können, daß er nach Gesetzen handelt, die aus einer andern Ordnung und unveränderlich sind. Diese Gesetze sind notwendig für uns andre Menschen auch da. Aber wir hören und sehen sie nicht, oder sehen sie höchstens als sähen wir sie nicht; der Tugendhafte aber höret ihre Stimme, und hält sich an den er nicht siehet als sähe er ihn. Er ist also in Verbindung mit der unsichtbaren Welt. Der Himmel neiget sich zu dem edlen Sieger herab, und die Bahn zum Unendlichen fängt für ihn an zu brechen. –

Und so gerieren sich auch dergleichen Menschen. So lebte Sokrates. Die unsichtbare Stimme, die er hörte, war ihm Mark und Bein. Darnach handelte er, und nicht Freund noch Feind, nicht Gefängnis noch Prytaneum, kein Rat von »dreißig Tyrannen«, und kein Senat von Hunderten, nicht ganz Griechenland noch die ganze Welt konnten dagegen etwas.

Und so starb er. Sein Giftbecher, als er hereingebracht ward, setzte alles in Tränen was um ihn war; selbst der Henker weinte; Phädon verhüllte sich in seinen Mantel; und Apollodor heulte laut aus. – Er allein ist ruhig, und sonnet sich bis an den letzten Atemzug in den Sonnenstrahlen der Wahrheit und einer bessern Welt. – – – Es ist nicht, als sähe man einen Menschen sterben; man glaubt einen Unsterblichen zu sehen, einen Freund und Vertrauten des Himmels und der Götter, der zu den Wohnungen des Friedes heimkehret, und nur an der Schwelle den Staub abschüttelt, der sich auf ihn gesetzt hatte.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 287-290.
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