Über die Unsterblichkeit der Seele

[474] »Die Versinnlichung der Kräfte gibt Warm und Kalt, Freude und Leid; welche kommen und gehen, und wandelbar und unbeständig sind. Trage sie mit Geduld, Sohn des Bharat; denn der weise Mann, den diese Dinge nicht irren, und dem Freude und Leid gleichgültig sind, ist gestellet für Unsterblichkeit. Ein imaginäres Ding hat keine Existenz; so wie hingegen ein Ding, was wahr ist, gar ohne Existenz nicht gedacht werden kann. Wer in die Grundursachen der Dinge schauen kann, sieht eines jedweden Dinges Gestalt. Wisse, daß der, durch den alle Dinge gemacht sind, unvergänglich ist, und daß niemand diesem unerschöpflichen Wesen etwas anhaben kann. Die Körper, welche die Seelen, die sie bewohnen und ewig unvergänglich und über allen Begriff sind, einhüllen, sind nur endliche Wesen. Deswegen, o Arjoon, entschließe dich zu fechten. Der Mann, welcher glaubt, daß es die Seele sei, welche tötet, und der, welcher denkt, daß die Seele vernichtet werden könne, sind beide, einer wie der andre, betrogen; denn sie tötet nicht und wird nicht getötet. Sie ist kein Ding, von welchem ein Mensch sagen könnte: es ist gewesen, es ist nun oder es wird künftig sein. Denn sie ist ein Ding ohne Anfang; sie ist von jeher, beständig und ewig, und kann in dieser ihrer sterblichen Hülle nicht vernichtet werden. Wie kann der Mensch, welcher glaubt, daß dies Ding unvergänglich, ewig, unerschöpflich und ohne Anfang ist, wie kann er denken, daß er es töten, oder veranlassen könne, daß es getötet werde? Wie ein Mann alte Kleider abwirft und neue anlegt, so geht die Seele, wenn sie ihre alte sterbliche Hüllen verlassen hat, in andre ein, die neu sind. Das Schwert teilet sie nicht, das Feuer verbrennet sie nicht, das Wasser verderbt sie nicht, der Wind verdorret sie nicht; denn sie ist unteilbar, unverbrennlich, unverderblich, und unverdorrlich: sie ist ewig, absolut, fortdauernd, unbeweglich; sie ist unsichtbar, unbegreiflich und unveränderlich. Deswegen, wenn du glaubst, daß dem so sei, mußt du nicht kümmern etc.«

Dies Stück ist aus der vor einigen Jahren vom H. Generalgouverneur Hastings bekanntgemachten Bhaguat-Gita, die zwar[474] nicht voll so alt als der Hollwellsche Schasta, aber doch auf 4000 Jahre angegeben wird. Vielleicht ist es einem und dem andern Leser, der von ohngefähr diese uralte Dokumente nicht gelesen hat, nicht unangenehm, noch einiges davon zu lesen, grade weil sie so alt sind.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 474-475.
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