Beschluß

[439] Die in einem Staat unentbehrliche Kraft ist wie das Herz im menschlichen Körper.

Daß für die physische Natur irgendwo ein großes Herz schlagen müsse, durch das und von dem sie in allen ihren Teilen Leben und Bewegung erhält, läßt sich begreifen. Eine leblose Stockholmer Uhr kann zwar wohl in Hamburg oder Osnabrück, von dem Meister der ihr die Bewegung gab getrennet, gehen; aber das lebendige Universum kann von seinem Herzen sowenig getrennt sein, als der menschliche Körper von dem seinigen, und es wird, wie im Kleinen so im Großen, wie im Besondern so im Allgemeinen, eine fortgehende und unaufhörende Systole und Diastole erfodert. – Wenn ebendasselbe große Herz, das für die physische Natur irgendwo schlagen muß, auch für die moralische Natur schlüge; so wüßten wir an was wir uns hier zu halten haben, und wir hätten zu gleicher Zeit einige Auskunft über die unüberwindliche Lenkkraft des menschlichen Willens, sowohl überhaupt als im Staate, und über den festen unbeweglichen Punkt. Doch wie dem auch sein möge, etwas Festes muß der Mensch haben daran er zu Anker liege, etwas das nicht von ihm abhange, sondern davon er abhängt. Der Anker muß das Schiff halten; denn, wenn das Schiff den Anker schleppt, so wird der Kurs mißlich, und Unglück ist nicht weit.

Wenn David seinen Feind und Verfolger Saul in der Höhle, wo er in seiner Hand war, nicht tötet sondern ihm nur einen Zipfel vom Rock abschneidet; so trieb und bewegte ihn so zu handeln nicht die natürliche Leidenschaft, sondern etwas anders. Wenn Sokrates die von seinen Schülern veranstaltete Flucht aus seinem Gefängnis nicht annimmt, sondern lieber sterben will und stirbt; so bewegte ihn so zu handeln nicht die natürliche Neigung sondern etwas anders. Die meisten würden das Gefängnis verlassen haben, und mit dem Zipfel nicht zufrieden gewesen sein. Warum? – Weil in den meisten die natürliche Neigung und Leidenschaft zum Handeln treibt und bewegt, und das andre dafür nicht zu Wort kommen kann.

Wohl sind unsre Sinne und Leidenschaften die Hörner, Cymbalen und Zinken, die den Laut und die Stimme der Wahrheit[439] in uns zerrütten, verdunkeln und überschreien. Sie sind die hundert schwere Ketten, die uns arme Menschen fesseln und halten, und uns mit Schmach bedecken. Wer sich nur von einer losgemacht hat, ist schon ehrlicher; und so immer weiter den langen sauern Berg hinan. – Und, wer ihn ganz erstiegen hat; wer, durch sein Wollen und Laufen oder durch Gottes Erbarmen, so weit gekommen ist, daß alle Ketten abgefallen sind, und keine mehr an ihm klirrt; der ist wahrhaftiglich ein freier Mann. – Er ist von dem Freiheitler himmelweit und wesentlich verschieden; und diese zwei verhalten sich zueinander: wie sein wollen zu sein, wie unten zu oben, wie nichts zu alles.

Der freie Mann ist los von der Erde und allem kleinen Interesse; auf ihn würkt, von nun an, nichts, ihm gilt nichts, ihn treibt und bewegt nichts, als das Wahre und Gute. Er hat den Rock des Fleisches ausgezogen57, nährt sich mit der Speise der Götter, und schifft auf dem Ozean der reinen Liebe.

Ein solcher hat Recht mitzusprechen, und ist über die Gesetze. Aber nicht, weil die Gesetze nicht immer heilig beobachtet und gehalten werden müßten; sondern weil er inwendig anders gestellet ist, und immer und in allen Fällen überflüssig, und mehr tut als die Gesetze fodern; weil er zwo Meilen geht mit dem der ihn eine nötigt; weil er nicht allein nicht ehebricht, sondern kein Weib ansiehet, ihr zu begehren in seinem Herzen; weil er nicht allein seinen Feind nicht hasset, sondern segnet die ihm fluchen, denen wohltut die ihn hassen, und, wie der Vater im Himmel, die Sonne möchte aufgehen lassen über die Bösen, und über die Guten.

Wenn nun ein Mann dieser Art eines irregehenden, Rat und Hülfe bedürfenden Volkes sich erbarmt hätte, und, vom Wahren und Guten getrieben, den Szepter in die Hand genommen hätte; – von wem hätte der seine Königschaft, sein Recht und seine Gewalt?

Es hätte freilich außer ihm noch ein solcher im Volke sein oder werden können. Und der wäre dem Könige gleich gewesen; aber er würde gerne sein Untertan geworden sein, weil er nur einerlei mit dem Könige gewollt hätte, und es ihm an dem genug gewesen wäre, daß nur das Gute geschehe.

Es hätte aber auch einer im Volk, der weit davon war, sich ein solcher dünken können. Und so groß und unbegreiflich dieser[440] Fehlgriff ist; so hat die Erfahrung gelehrt, daß er nicht unmöglich ist weder im Kleinen noch im Großen, und daß es dazu nur einiger Veranlassung bedürfe. Schlagt auf die Jahrbücher des Menschengeschlechts, wo ihr wollet. Leset z.E. die Geschichte der Bewegungen, nach des guten frommen Georg Fox Predigt von Freiheit bei einem Teil seiner ersten Anhänger, im 17.; leset die Geschichte der Münsterschen Unruhen nach Luthern, im 16. Jahrhundert58; und seht: wie schwach und anmaßend die menschliche Natur ist, und wie sie immer den leichten Weg gehet.

Ich breche hier ab, und erspare einem Schwachen von der Schwachheit seiner Mitmenschen zu reden. Aber guter Rat ist doch immer ehrenwert, er komme vom Schwachen oder von dem Starken.[441] Wenn ein guter Hausvater bei Nacht Licht braucht, so hascht er's nicht draußen unter dem weiten Tausend-Sternen-Himmel, und bringt es durch die Fenster herein; sondern er schlägt es mit Stahl und Stein mühsam und künstlich im Hause an, und läßt es durch die Fenster hinausleuchten.


Man kann nicht bergauf kommen, ohne bergan zu gehen. Und obwohl Steigen beschwerlich ist; so kommt man doch dem Gipfel immer näher, und mit jedem Schritt wird die Aussicht umher freier und schöner! Und oben ist oben.

Wie nun der Sklave es auch machen möge, sich seiner Ketten zu entledigen; soviel ist klar, daß er durch Wissen und Vernünfteln die Ketten nicht brechen werde; sondern daß er Hand anlegen müsse, wenn es sein Ernst ist, ihrer loszuwerden.[442]

Und das ist die Besserung, die ich in Vorschlag bringe.

Sie ist unser Tagewerk auf Erden, und der Große Königliche Weg zur Freiheit, der niemand gereuet.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 439-443.
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