Einleitung

[416] Alle Beiträger und Herausgeber versprechen ihren Lesern die Wahrheit; ich auch. Doch muß ich aufrichtig sagen, daß ich nicht ohne Skrupel bin, ob alle Beiträger und Herausgeber, mich selbst[416] nicht ausgenommen, auch halten können, was sie versprechen. Eigentlich kann man nur geben was man hat, und bisweilen hat man nicht, was man meinet zu haben. Freilich, die Wahrheit sollte immer und in allen Fällen uns leiten – aber gewöhnlich leiten wir sie; und denn meinen wir wohl sie zu haben, wir haben sie aber nicht. Indes wird das so genau nicht genommen, und der Wohlstand erfodert, daß man die Wahrheit wenigstens verspreche. Auch mag der Leser noch mit den Herausgebern zufrieden sein, wenn sie ihm nur nichts anders geben, als was sie ehrlich meinen, und es ihm für nichts mehr als was es ist geben, nämlich für ihre Meinung; denn alsdann kann er zusehen, Meinung gegen Meinung vergleichen, und sich so Schadens erwehren.

Es gibt bekanntlich zu dieser unsrer Zeit politische Meinungen, die von denen, die man sonst hatte, abgehen; ein sogenanntes neues System, das dem alten, das bis daher, unter verschiedener Gestalt, in der Welt geachtet und geltend war, entgegen ist. Man ist mit diesem neuen System grade nicht zurückhaltend gewesen, und könnte es also immer als bekannt vorausgesetzt werden. Da es indessen von allen nicht einerlei, sondern mit Abänderungen und mit mehr und weniger Bescheidenheit oder Atrozität vorgetragen wird; so soll hier zum Überfluß einiges angeführt werden, damit ein jeder selbst mit sehe, und sich über die Hauptzüge desselben selbst mit zurechtfinde.

Nach dem alten System: sind in einem großen Hause, goldene, silberne und irdene Gefäße, etliche zu Ehren, etliche zu Unehren; nach dem neuen: sind alle Gefäße gleich, an Materie und an Form. Nach dem alten: ist der König, die Regierung, der Regent etc. Regent, und der Untertan ist Untertan; nach dem neuen: sind alle Menschen frei und haben gleiche Rechte. Nach dem alten: macht der Regent die Gesetze, und der Untertan befolgt sie; nach dem neuen: haben alle Staatsbürger zu und an der Gesetzgebung Recht und teil. Nach dem alten: ist der Untertan aus Not untertan, nicht allein um der Strafe sondern auch um des Gewissens willen; nach dem neuen: aus richtigen Begriffen. Nach dem alten: ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet; nach dem neuen: macht sich der Mensch seine Einrichtungen selbst; alle Gewalt ist im Volke, das damit bekleidet und davon entkleidet wen und wie es will. Kurz, nach dem alten System: ist der König etc. ein Hirte, der seine Herde auf grüner Auen weidet, ein Vater der seiner Kinder hütet und wacht, ein wohltätiger Genius von höherer Hand bestellt[417] für sein Volk zu denken und zu wollen und mit stiller Liebe über ihm zu schweben, und das Volk, das sich seiner Rechte und des bürgerlichen Selbstdenkens und Selbstwollens begeben hat, lebt im Glauben und im Vertrauen; und das neue System scheint, die Äußerungen unsrer Schriftsteller zusammengenommen, ein allgemeines reines Vernunftregiment zu sein. Die Staatsbürger tun alles selbst; die Schafe weiden sich auf der grünen Aue selbst; die Kinder wachen und hüten ihrer selbst; das Volk schwebt selbst über sich selbst; mit einem Wort: jedweder einzelne ist im Genuß seiner Rechte, und soll, als Staatsbürger, selbst denken und selbst wollen – und darum muß er nun über die Menschenrechte etc. belehrt, und aufgeklärt werden usw.

Es gibt eine Seite, von welcher angesehen dies neue System nicht ohne Schein ist. Das alte ist offenbar großem Mißbrauch unterworfen, und es scheint, daß diesem Mißbrauch durch das neue gewehrt und abgeholfen werde. Und überhaupt ist diese Behandlungsart, wo jeder einzelne Mensch als ein Wesen, das Verstand und Willen hat, behandelt wird, wenn sie praktikabel ist, wohl edel und ehrenwert. Endlich wird: ob der Mensch als Mensch seine Rechte habe, schwerlich irgendwo bezweifelt werden – daß also hier das »Nachsinnen und Wiederkäuen und Bewegen im Herzen« keinem Menschen verargt werden kann, und ihm nicht zur Schande sondern zur Ehre gereicht. Wenn man aber in einer so ernsthaften Sache zufährt, und schon als ausgemacht annimmt was erst ausgemacht werden sollte; wenn man gleich zum Werk schreitet, und heimlich und öffentlich, in Zeitungen und Büchern, gesalzen und ungesalzen, sanft und mit Rumor, von Freiheit und Menschenrechten verkündigt und predigt, und unbedingt mit Aufklärung an dem Menschen hantiert; so ist die Prozedur etwas voreilig und tumultuarisch, und der Kanzler von Ephesus würde sagen: »Ihr Männer von Ephesus, welcher Mensch ist der nicht wisse, daß das Volk nicht zertreten werden soll, und daß es Menschenrechte gebe. Weil nun das unwidersprechlich ist: so sollt ihr ja stille sein, und nichts Unbedächtiges handeln – hat aber jemand zu jemand einen Anspruch: so hält man Gericht und sind Landvögte da; lasset sie sich untereinander verklagen. Wollt ihr aber etwas anders handeln, so mag man es ausrichten in einer ordentlichen Gemeine. Denn wir stehen in der Fahr, daß wir um dieser heutigen Empörung verklaget möchten werden, und doch keine Sache vorhanden ist, damit wir uns solcher Aufruhr entschuldigen möchten.«[418]

Ich sage, die Prozedur sei etwas voreilig. Wir irren alle mannigfaltig. Es könnte doch sein, daß wir auch hier irreten; hier: wo der Irrtum so leicht zu begehen, und so schwer zu vermeiden ist; wo der Bogenschütze nicht bloß vor sich zu sehen hat, sondern auch: was der Pfeil tun und anrichten werde, wenn er von seinem Bogen dahin, und nicht mehr in seiner Gewalt ist; hier: wo es nicht genug ist, daß der Regenbogen in der Luft mit schönen Farben spiele, sondern wo er auch auf die Erde muß können niedergebeugt werden ohne seine Farben zu verlieren, und wo eine ungemeine Erfahrung und eine feine Mathesis dazu gehört, die Strahlenbrechungen bei der Operation im voraus sicher zu berechnen. Denn wir sollen doch nur wollen, was am Ende und wahrhaftig wahr und gut ist, und nicht was nur gleißet und scheint.

Das neue System nun hat großen Eingang und viele Anhänger gefunden, unter allen Klassen von Menschen, und das war zu vermuten und ist kein Wunder. Übelgesinnte Menschen konnten glauben: ihre Rechnung dabei zu finden; eitle und leichtsinnige Menschen waren von jeher eitel und leichtsinnig, und regieren mögen wir alle gern. Auch die Gutgesinnten waren nicht allerdings schußfrei. Ihr edler Unwille über die Schmach und Schande, die Menschen zu allen Zeiten von der Tyrannei haben erdulden müssen, konnte ihnen ins Auge treten, und es so, in diesem System, was es gerne sehen wollte, Land sehen machen; sie konnten, indem sie für ihr Geschlecht einen Tag des Heils heimlich herwünschten, sich durch den Schein eines Anbruchs übernehmen lassen: das Heil von dieser Seite zu erwarten, und ihm mit Freudengeschrei entgegengehen.

Und wenn das Heil würklich da und im Anzuge wäre, wer ginge nicht gerne mit ihnen! – Ist doch des Menschen Herz in seinem Inwendigsten geneigt zu Liebe und Wohlwollen! – Wird es doch nicht befriedigt als durch eine unvermischte, ungestörte und allgemeine Glückseligkeit, wo die Wellen hoch, und rundum bis an den Horizont schlagen! –

Wer aber überzeugt ist, daß von dieser Seite nur Unordnung und Unglück, und kein Heil komme; und daß das alte System, mit allen seinen Gebrechen, das einzige sei, das die Menschen bürgerlich zusammenhalten und glücklich machen kann; – soll der auch mitgehn und frohlocken? – Das soll er nicht! Sondern er soll, nun es einmal darüber zur Sprache gekommen ist, treu und unverhohlen dagegen sagen: was er dagegen weiß, und so gut er[419] es weiß, es bringe ihm Dank oder Undank. Er soll sagen, was wahr ist, und was zum Friede dienet, und was zur Besserung untereinander dienet, mit sanften freundlichen Worten. Wiewohl ihm etwas Eifer nicht zu verübeln wäre. Denn die Sache ist des Eifers wert; und die Löwin, die ihre Jungen verteidigt, pflegt nicht mit dem Schwanz zu wedeln.

Solange politische Meinungen in der obern Atmosphäre, der Region der Gelehrten, verhandelt werden; so geht das die Leute unten auf der Erde wenig an. Wer sich eine gute Rüstung und Mut und Talent fühlt, mag hingehen und Ehre einlegen; und wer sich das nicht fühlt, kann ruhig zu Hause bleiben, und den Verhandlungen zusehen. Seitdem sie aber irgendwo in die untere Region herabgekommen sind, ist die Sache ganz anders, und Maus und Mann sind interessiert. Ein jedweder, der erste der beste, springt wie er geht und steht hervor; nicht, weil er recht haben oder Ehre einlegen, sondern weil er selbst zusehen, und sich in einer so wichtigen Sache nichts will auf die Nase binden lassen.

Und das ist mein Fall. Ich hasse mich und meine Mitmenschen nicht, und es ist mir nicht gleichviel, ob es mir und andern wohl oder übel gehe.

Ich sehe freilich auch wohl ein, daß manches in der Welt anders sein könnte und sein sollte, und daß eine Besserung nicht unnötig wäre; nur kommt es mir vor, daß die Besserung nicht ärger als das Übel sein müsse, das man bessern will; daß man den Kopf nicht drangeben müsse, um das Ohrläppchen zu retten, und daß ein kleineres Glück, das man hat, besser sei, als ein größeres, das man erst haben soll usw.

Auch kommt es mir so vor, daß die äußern Einrichtungen es allein wohl nicht gar täten. Es gibt Republiken, und doch sind dort Mißvergnügte. Also am Menschen liegt es. Dem ist nichts gut und nichts recht; der will immer etwas anders und etwas Neues; will immer bauen und bessern; ist immer nicht reich, nicht mächtig, nicht geehrt genug; und der macht gute Einrichtungen schlecht, und schlechte gut. Der Mensch also muß gebessert werden; und, würde ich raten, nicht von außen hinein. Dreht man doch nicht am Zeiger, daß das Werk in der Uhr recht gehe, sondern man bessert das Werk in der Uhr, daß der Zeiger recht gehen könne. Ebenso möchte ich auch beim Menschen nicht bloß am Zeiger gedreht, sondern das Inwendige gebessert haben, damit auf dem Zifferblatt sich alles von selbst mache. Ich möchte[420] überhaupt, dünkt mich, eine Besserung, dadurch nicht einem Menschen gegen den andern, einer Partei gegen die andre, einem Volk gegen das andre, sondern dadurch allen Menschen, allen Parteien, allen Völkern geholfen würde; kurz eine Besserung, welche die Bösen, gut; die Übelgesinnten, wohlgesinnt; die Törichten, weise; die Treulosen, treu etc. und so, ohne Ausnahme, alle Menschen, Hohe und Niedrige, Fürsten und Untertanen, Freunde und Feinde, zu guten, bescheidenen, barmherzigen, großmütigen, edlen und glücklichen Menschen machte.

Das ist mein Sinn, darauf ich mich verlasse.

Und in diesem Sinn will ich nun, wie Alfred der Harfner, ausgehn, und das feindliche Lager besehen.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 416-421.
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