Vorläufige Bedenklichkeiten und Zweifel

gegen das neue System

[421] Wenn uns Bewohnern dieser Erde eine neue Sonne gestellet würde, gesetzt auch sie glänzte und funkelte mehr und besser als die alte, und es würde uns, den 20. März, wenn in den Widder getreten und ein neues Jahr wieder angefangen werden soll, freigegeben zu wählen: zwischen der alten und neuen Sonne; – sollten wir da gleich zugreifen? – Ich zweifle grade nicht, daß viele ihre Karte für die neue Sonne abgeben würden; aber ich zweifle auch nicht, daß das übereilt wäre, und daß sie wenigstens einen Gang dieser neuen Sonne durch alle zwölf Zeichen des Tierkreises hätten abwarten sollen, um zu sehen: ob sie auch das leiste, was man von der Sonne erwartet, und was die alte so lange geleistet hat. Besser ist freilich besser; unbesehends aber ist Anhänglichkeit und Vorurteil an und für das Alte edler, als Vorurteil und Anhänglichkeit für und an das Neue. Wenn also die beiden Sonnen gleich gut sind; so muß man für die alte sein, und das von Rechts wegen. Sie hat unserm Geschlecht so lange geschienen; unsre Eltern und Großeltern haben so lange unter ihr gelebt, bei ihrem Lichte gesehen, und an ihren Strahlen sich gewärmt; sie hat, wenn auch hie und da ein Gewitter generiert oder eine Ernte verbrannt worden, sie hat doch unsern Vätern und unsern Müttern so oft ihre Saaten gereift, und Äpfel und Birne gemacht etc. – Es wäre doch undankbar: den alten Freund und Wohltäter aufzugeben, und sich an den neu ankommenden Funkler zu hängen.

Was die alte Sonne ist gegen die neue, das ist eine bisherige[421] Einrichtung gegen eine andre für jedes einzelne Land, und das alte System gegen das neue für die ganze Welt. Doch ist das nur, wenn beide Systeme gleich gut wären. Das scheint nun aber der Fall nicht zu sein; denn, außer dem, daß die neue Sonne nicht die alte ist, hat sie manches wider sich, das einem gleich vor ihres Tempels Tür und auf der Treppe entgegenkommt.

Als zum Exempel, so scheint es ganz natürlich, daß einer oder wenige viele regieren; unnatürlich aber, daß viele einen regieren; am allerunnatürlichsten aber: daß alle alle regieren sollen. Jeder einzelne Mensch hat alle Hände voll zu tun, mit sich allein einig zu werden. Und doch sollen hier, z.B. in einem Staat von nur 100000 Menschen, 100000 einzelne Menschen, außer mit sich selbst, noch mit andern 99999 einig werden.

Gleich noch eins, das un- oder widernatürlich scheint. Nach dem alten System sind die Staatskräfte zweierlei, einige aktiv andre passiv, Mann und Weib; nach dem neuen sind sie Mann und Weib zu gleich, und also hermaphroditischer Art. Im Physischen ist aber das erste, der Gang und Griff der Natur; und das andre, gewöhnlich, der Mißgriff.

So fällt bei dem neuen System auch das sehr auf, daß von Anfang der Welt bis itzt, fünf- bis sechstausend Jahre hindurch, z.E. immer Monarchien gewesen sind, und daß nun, am Ende der sechstausend Jahre, herausgebracht wird, daß nie keine hätten sein sollen. Von jener berühmten Stadt erzählt man wohl, daß dort die Inquisiten erst gehängt werden, und daß denn ihr Prozeß instruiert wird. Aber dem ganzen menschlichen Geschlecht, von seinem Ursprung an bis itzt, ein solches Procedere beilegen! –

So ist ferner der allgemeine Beifall, und der leichte Eingang, den das neue System findet, etwas bedenklich. Es ist mit unsrer Seele, wie mit unserm Körper. Sie hat auch eine Zunge und hat einen Magen. Der Zunge gefällt das Bittere nicht, aber dem Magen ist es heilsam und gesund; und, was den Magen verdirbt, gefällt der Zunge wohl. Es ist aber eine alte Sage, daß die Wahrheit nicht süß sei.

Auch das erregt kleinen Zweifel, daß die Verteidiger des neuen Systems selbst nicht alle recht zu trauen scheinen, und daß die Bescheidenen unter ihnen würklich zurückhaltend sind, und lieber nicht zu weit vorrücken wollen.

Doch sehr große Zweifel und Bedenklichkeiten er regt die Differenz in der innerlichen Gestalt der alt-und neusystemischen[422] Staatsbürger. Ein Mensch, der seine Rechte hingibt und Gott und seinem König vertraut, ist in sich ein lieber Mensch; wenn er nicht schon gut ist, so bessert ihn die Liebe; und mit ihm ist leicht fortkommen. Diesem Menschen ist innerlich wohl, und so ist er nicht geneigt, äußerlich weh zu machen. Er ist gehorsam, willfährig, bescheiden etc., und prätendiert immer weniger als er kann.

Was aber soll man, Ausnahmen verstehen sich von selbst, von einem Menschen erwarten, der kein Vertrauen hat; der alles selbst sehen und betasten will, und immer über seine Rechte brütet? Wenn der nicht auf sehr festen Füßen steht, so stößt ihn die neue Einsicht um; und, unbesehends, ist er kein guter Nachbar. Er führt natürlich immer die Liste seiner Rechte bei sich, ist ungestüm, mißtrauisch, prätendiert immer nicht weniger als er kann, und weiß alles besser. – Und nun ein ganzer Staat von solchen Rechtsgelehrten!

Die ältesten Könige aller alten Völker waren Götter oder Halbgötter, die Söhne der Sonne und der Sterne; und uns andern werden noch die Könige und Regenten von Gott gegeben. Die Völker bedurften denn bisher, um regiert zu werden, Gottes und eines Regenten. Itzo bedarf der Mensch weder des einen noch des andern; er kann alles selbst tun, und ausrichten. Diese Veränderung im Menschen ist groß, und unbegreiflich! Und sie ist bewürkt worden? Durch die Entdeckung der Menschenrechte. Aber wie ist das möglich? Und wie soll das zugehen? – Rechte sind doch am Ende nur Rechte und keine Kräfte, und dazu sind diese Rechte nicht einmal neu gegeben, sondern nur entdeckt worden! – Man wird freilich sagen: die Völker bisher bedurften des alles nicht, sondern standen nur in dem Wahn, des alles zu bedürfen. Ja, aber die Menschen itzo können des alles nicht entbehren, sondern stehen nur in dem Wahn, des alles entbehren zu können.

Auch die neugemachte Entdeckung der Menschenrechte selbst hat viel Unbegreifliches, und darin man sich nicht finden kann. Gewesen sind, natürlich, diese Rechte seit Anfang der Welt; denn die ersten Menschen müssen sie doch wohl so gut gehabt haben, als die letzten. Also gewesen sind die Rechte seit Erschaffung der Welt. Und sie hätten sich so lange verborgen gehalten! Wären itzo allererst an den Tag gekommen! Und keiner von so vielen großen, weisen und weltberühmten Männern wäre darauf geraten! – Kein Ägypter! – Kein Grieche! – Nicht Sokrates![423] – Nicht Plato! – Nicht Konfuzius! – Nicht Newton! – Nicht Leibniz! – Keiner! –

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 421-424.
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