Fünfter Brief

[484] »Und es begab sich darnach, daß er in eine Stadt mit Namen Nain ging: und seiner Jünger gingen viel mit ihm, und viel Volks.

Als er aber nahe an das Stadttor kam: siehe, da trug man einen Toten heraus, der ein einiger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Witwe, und viel Volks ging mit ihr.

Und da sie der Herr sähe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: ›Weine nicht.‹

Und trat hinzu, und rührete den Sarg an: und die Träger stunden. Und er sprach: ›Jüngling, ich sage dir, stehe auf.‹

Und der Tote richtete sich auf, und fing an zu reden. Und er gab ihn seiner Mutter.«[484]

Man kann eine solche Geschichte nicht lesen, ohne die Mutter seligzupreisen, und den Toten und die Träger und alle Menschen die dabeiwaren; aber doch sonderlich die Mutter. Du weißt, Andres, wenn man ein Kind schwer krank hat das man gerne behalten will, wie man da geht und die Hände ringt, und immer hofft, auch wenn man nicht mehr kann und sollte. Man hofft noch immer, und hört auch nicht auf, solange die Kranke noch lebendig und im Bette ist. Wenn sie aber auf dem Brett liegt, wenn der Sarg kommt und die Träger, und die Tote herausgetragen wird; denn muß man wohl aufhören, und bleibt denn nichts übrig als hinter den Sarg herzugehen und zu weinen.

Die Witwe zu Nain scheint auch keinen andern Rat gewußt zu haben, und sie hoffte wohl auch nicht mehr, als sie, hinter der Leiche her, aus dem Stadttor ging. Und es würde ihr auch nicht anders als uns andern ergangen sein, ihr Kind wäre eingesenkt und mit Erde beschüttet worden und sie hätte allein wieder zurückgehen müssen; wenn nicht unser lieber Herr Christus grade des Weges hergekommen wäre, und sie ihm mit der Leiche begegnet wären.

Und darum ist es eben so groß und erfreulich, daß er einmal auf Erden gewesen ist, und Menschen das Glück haben konnten, ihm zu begegnen.

»Und als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: ›Weine nicht.‹«

Es ist immer etwas über alle Maßen Zartes und Großmütiges in dem Benehmen Christi. Wer nicht helfen kann hat gewöhnlich Mitleiden, und wer Mitleiden hat kann gewöhnlich nicht helfen. Auch ist mancher mitleidig, weil die Reihe auch an ihn kommen kann, weil er den andern braucht, oder ihm Verbindlichkeit hat usw. Hier ist das alles ganz anders. Auch, nach dem ersten Ansehen hatte die Witwe recht, Mitleiden von Christus zu erwarten und zu fodern; nach der Wahrheit aber war ein anderes Verhältnis zwischen ihm und ihr. Vor ihm war sie, was wir alle sind: undankbare Kinder, eine ungeratene Tochter die ihres Vaters Haus mutwillig verlassen und sich selbst unglücklich gemacht hatte; und Christus war: der Vater, der ihr nachgegangen war, um das verlorne Kind aufzusuchen, und der sie nun hier in einer elenden Hütte mitten unter den bittern Folgen ihrer Vergehung antraf. Sie mußte sich schämen, ihm unter die Augen zu kommen, und hatte nichts als Vorwürfe zu erwarten, und verdient.[485]

Aber »als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: ›Weine nicht.‹«

Und das war ihm noch nicht genug. Er wollte nicht allein vergeben und vergessen, sondern auch in der gegenwärtigen Lage und Verlegenheit Rat schaffen.

»Und er trat hinzu, und rührete den Sarg an, und die Träger stunden.«

Vermutlich kannte die Witwe den Herrn Christus nicht, und wird also in ihrem Schmerz nach dem Rabbi und seinem: »Weine nicht«, wohl nicht sonderlich hingehört haben. Sie hat gewiß den Sarg mit keinem Auge verlassen, und von dem Rabbi nichts erwartet – noch nicht, als er hinzutrat, und den Sarg anrührete, und dem Jüngling aufzustehen gebot.

Als aber der Kopf aus dem Sarge emporkam, als der einzige Sohn sich aufrichtete und anfing zu reden, und ihr wiedergegeben wurde ... Andres, wie wird sie da den wunderbaren Rabbi angesehen, sich vor ihn auf die Erde hingeworfen, und ihm Hände und Füße geküßt haben.

Und was meinst Du die Umstehende? – Lukas sagt: »Es kam sie alle eine Furcht an, und preiseten Gott etc.«, und das scheint mir sehr natürlich. Denn, so rührend die Szene auch immer sein mochte; so mußte doch das höhere Interesse die Oberhand gewinnen. Man verliert die Witwe aus den Augen, und zittert, und preiset Gott: daß es also wahr ist, daß im Tode nur das Gehäuse und die Hülse zerfällt; daß der Geist des Menschen nach dem Tode übrigbleibt, und man wahrhaftig auf Wiedersehen rechnen kann.

Andres! die in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und herfürgehen ...


Aber auch die Toten, die nicht in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und herfürgehen.

Sein Reich war nicht von dieser Welt. Ob er gleich Herr und Meister der sichtbaren Natur war, und seine Lehre über alles wohltätig auch für das Leben ist, und er selbst, im Leiblichen immer und bei aller Gelegenheit half und diente; so war doch dies eigentlich sein Feld und Gebiet nicht. Er war gesetzt über das Unsichtbare, und ein Pfleger der heiligen Güter. Und alle seine sichtbare Werke und Wunder waren nur seine kleinere und Nebenwerke, die er verrichtete und tat, um die Menschen über[486] die größere zu belehren, und ihnen, durch das was sie sahen, die Augen zu öffnen über das was sie nicht sahen.

Als er dort zu dem Gichtbrüchigen sprach: »Sei getrost mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben«; so wird der Gichtbrüchige selbst zwar wohl inneworden sein und gewußt haben: was das sei, wenn Christus einem Menschen seine Sünden vergibt; aber, die Schriftgelehrten die umherstanden wußten es nicht, und hatten deswegen ihre Bedenklichkeiten. Und Christus sagte: »›Auf daß ihr wisset, daß des Menschen Sohn Macht habe, auf Erden die Sünden zu vergeben‹, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: ›stehe auf, hebe dein Bette auf und gehe heim.‹ Und er stund auf und ging heim.«

So auch hier. Die Auferweckung eines Toten ist freilich ein großes Werk; aber es gibt noch ein größeres. Wie Geist und Willkür größer und edler ist, als Leib und Mechanismus; so ist auch die Auferweckung des geistlichen Jünglings zu Nain, oder: die Herstellung unsers Geistes in seine ursprüngliche Herrlichkeit, ein ander Werk. Aber dies hohe, und eigentliche Werk Christi, ist unsichtbar. Damit wir aber wüßten, daß er der von der Welt her erwartete, und von allen guten Menschen begehrte, Held und Helfer sei, und Macht habe, den erstorbenen Geist des Menschen zu wecken; so weckte er leiblich Tote. Und die das hörten und um die Wahrheit bekümmert waren, die wußten, weil niemand die Werke tun kann: daß er sei ein Lehrer von Gott kommen; und gingen zu ihm, um bei ihm Rat und Trost für ihre Seele zu finden.

Menschen können keinen geben, was sie auch sagen und versprechen. Sie können von der Leiche wohlreden, können sie kleiden und mit Blumen schmücken, ihr den Kopf und die Hände zurechtlegen etc.; aber tot ist tot, und sie bleibt stille und stumm im Sarge liegen. Wenn aber Christus den Sarg anrühret; so richtet der Tote sich auf, und fängt an zu reden.

Durch Worte und Floskeln wird aus dürrem Winterholz kein grünes; wohl aber durch ein gleichartiges Leben.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 484-487.
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