Vierter Brief

[482] Du möchtest gern den Sinn der unterirdischen Unternehmungen in der Mythologie der alten Völker wissen, und warum doch die großen heroischen Menschen, die feurigen Sucher und Liebhaber der Wahrheit, in die Unterwelt heruntergestiegen sind. –[482] Ich denke, Andres, weil sie, was sie suchten, hier oben nicht haben finden können. Wer hier sein Gnüge findet, der muß mit unvollkommner, sichtbarer, veränderlicher und vergänglicher Natur genug haben. Wenn also eine vollkommne, unsichtbare, unveränderliche und unvergängliche Natur der Freund war, den ihre Seele liebte; so mußten sie ihn anderswo suchen gehen. Seine Fußstapfen fanden sie in dem Sichtbaren und Vergänglichen wohl, aber ihn fanden sie nicht.

Doch, warum grade unter der Erde die Veredelung sein selbst suchen? –

Wird doch nichts in der Luft gesäet! Samen und Tierarten legen in der Erde die Schale ab, ehe sie ihre neue Gestalt und Existenz erhalten. Gehen doch auch die Menschen leiblich in die Erde, ihren Staub abzuschütteln und der Wahrheit näher zu kommen. Vielleicht, daß daher ein Bild genommen ist; oder, weil das Weizenkorn, ehe es Frucht bringet, zuvor ersterben, und also einen Schritt rückwärts, herunter, tun muß; oder, weil die Weisen sich fügen wollten in die Ideen der Welt, die dort Schätze vermutet und sucht; oder, weil der ihrige da gefunden wird, wo es Mühe kostet hinzukommen, und wo nicht ein jeder von Hause aus hinsehen kann. Vielleicht ist's auch noch anders, Andres, ich weiß nicht; aber, mich dünkt, wenn wir hätten erfinden sollen, wir hätten auch, die Schwärmer in der Luft, und die wahren ernsthaften Liebhaber unter der Erde suchen lassen.

Offenbar muß man von Erde und Himmel und von allem, was sichtbar ist, die Augen wegwenden, wenn man das Unsichtbare finden will. Nicht, daß Himmel und Erde nicht schön und des Ansehens wert wären. Sie sind wohl schön, und sind da, um angesehen zu werden. Sie sollen unsre Kräfte in Bewegung setzen, durch ihre Schöne an einen, der noch schöner ist, erinnern und uns das Herz nach ihm verwunden. Aber, wenn sie das getan haben, denn haben sie das Ihrige getan, und weiter können sie uns nicht helfen.

Der Mensch ist reicher als sie, und hat, was sie nicht geben können. Alles, was er um sich her Leben haben sieht, stirbt; und er weiß von Unsterblichkeit. Er sieht in der sichtbaren Natur nichts als Zeitliches und Örtliches; und er weiß von einem Ewigen und Unendlichen. Er sieht nur Mannigfaltigkeit, lauter Zerstreutes und Zerstückeltes; und doch will er immer Einen, unter Eins fassen, aus Einem herleiten usw.[483]

Wie und woher könnten ihm solche heterogene und bewundernswürdige Dinge kommen, wenn sie nicht aus ihm selbst kämen und in ihm nicht etwas Heterogenes und Bewundernswürdiges wäre.

Selbst die Weisheit und Ordnung, die der Mensch in der sichtbaren Natur findet, legt er mehr in sie hinein als er sie aus ihr herausnimmt. Denn er könnte ihrer ja nicht gewahr werden, wenn er sie nicht auf etwas, das er in ihm hat, beziehen könnte, so wie man ohne Maß nicht messen kann. Himmel und Erde sind für ihn nur eine Bestätigung von einem Wissen, des er sich in sich bewußt ist, und das ihm die Kühnheit und den Mut gibt: alles zu meistern und aus sich zu rektifizieren. Und mitten in der Herrlichkeit der Schöpfung ist und fühlt er sich größer, als alles was ihn umgibt; und sehnt sich nach etwas anderm.

Andres, der Mensch trägt in seiner Brust den Keim der Vollkommenheit, und findet außer ihr keine Ruhe. Und darum jagt er ihren Bildern und Konterfeis in dem sichtbaren und unsichtbaren Spiegel so rastlos nach, und hängt sich so freudig und begierig an sie an, um durch sie zu genesen. Aber Bilder sind Bilder. Sie können, wenn sie getroffen sind, sehr angenehm überraschen und täuschen, aber nimmermehr befriedigen. Befriedigen kann nur das Wesen selbst, nur freies Licht und Leben – und das kann ihm niemand geben, als der es hat.

Gott befohlen, Andres.

Dein etc.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 482-484.
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