Eine Korrespondenz

zwischen mir und meinem Vetter

[451] Hochedelgeborner

Hochzuehrender Herr Vetter,

Ich habe Ew. Hochedelgeborn etwas zu sagen und zu fragen, daran mir doch gelegen ist, und darüber ich seit einiger Zeit in einer Art von Verlegenheit bin.[451]

Seht, meine Kinder wachsen heran, und ich weiß nicht: ob ich sie soll vernünftig, oder unvernünftig werden lassen.

Verstehen Ew. Hochedelgeborn wohl, wie das zu verstehen ist. Eigentlich unvernünftig will ich sie nicht haben, das kann der Herr Vetter auch wohl denken. Warum sollte ich sie unvernünftig haben wollen? So toll werde ich ja nicht sein, das können Ew. Hochedelgeborn wohl denken. Aber, ob es vielleicht mehr als eine Vernunft gibt, ich kann in die heurige mich nicht finden. Sie nennen Dinge vernünftig, die ich unvernünftig, und Dinge unvernünftig, die ich vernünftig finde. Da bin ich nun zwischen Tür und Angel, und weiß nicht: ob ich eine unvernünftige Vernunft, oder eine vernünftige Unvernunft vorziehen soll. Als zum Exempel, da haben sie das bekannte Ding von der permanenten Aufklärung, und daß von nun an alles mit Vernunftgründen getrieben und gezwungen werden soll. Das Ding scheint mir gar artig und bequem und ich habe es so gerne begreifen wollen; aber ich kann es nicht begreifen. Das kann ich wohl begreifen, daß Vernunftgründe da hingehören, wo sie hingehören; aber das kann ich nicht begreifen, daß sie da hingehören wo sie nicht hingehören, und ich komme immer darauf zurück: wo sie nicht dienen, da gehören sie nicht hin, und wo sie nicht hingehören, was sollen sie da? – Lacht man doch über jenen Prediger, der am Ufer stand und den Fischen predigte.

Dem Herrn Vetter kann ich's wohl sagen, ich habe auch einmal unter der Hand mit dieser neuen Art und Kunst einen kleinen Versuch bei meinen Kindern gemacht. Aber das wäre mir fast übel bekommen, und die Jungens hätten mich bald zum Hause hinaus räsoniert. Flugs ergriff ich wieder die strikte Observanz, und halte seitdem strenge auf Gehorsam; und das geht viel besser. Auch ist, dünkt mich, Gehorsam an sich etwas Löbliches und Liebliches, und man kann ein Kind das aufs Wort gehorcht, und so ein enfant raisonneur nicht nebeneinander sehen, ohne das eine zu lieben, und dem andern die Rute zu gönnen.

Es gibt freilich gute Gründe: für alles was ein Kind tun muß; aber selten kann das Kind die verstehen, und oft darf es sie nicht wissen, wenn nicht mehr verdorben als gutgemacht werden soll.

Wie denn nun? Soll nun alles stehn und liegen bleiben; und weil das Warum nicht an den Mann will, auch das Was an den Nagel gehängt werden?[452]

Ich denke, man wehrt lieber der ersten Not, und gewöhnt die Kinder einstweilen an das Was.

Das Warum ist ein heimlicher Schatz, der ihnen aufbewahrt bleibt, und der am besten vorderhand mit Fideikommiß belegt wird, bis sie zu Verstand kommen. Dann mögen sie ihn finden, und einsäckeln, und uns im Grabe danken.

Aber ich gehe noch weiter, Herr Vetter, und sage: daß oft unvernünftige Gründe die helfen, Gott vergeb mir die Sünde, besser sind, als vernünftige, die nicht helfen.

Der Herr Vetter weiß, daß die Wahrheit einem ehrlichen Kerl über alles geht. So gibt es auch Unwahrheiten und Aberglauben, die durchaus ausgerottet, und nicht geduldet werden müssen. Ich meine nur, daß die Vernunft nicht immer gradezu und ohne Unterschied zufahren muß, und daß es Fälle gibt, wo es besser ist, sich, um einer guten Absicht willen, bis weiter so gut zu helfen als man kann. Nimmt man es doch keinem Menschen übel, wenn er seinen Freund hinters Licht führt, um ihm eine Freude zu machen, und ihn auf einen Fleck hinzubringen wo er ihn haben will, und wo er ihn mit der Wahrheit nicht hinbringen konnte ohne das ganze Spiel zu verderben.

Ich will ein Exempel geben. Der Herr Vetter weiß die Kinderstuben–Sage: »daß neugeborne Kinder nicht allein gelassen werden dürfen, weil sonst der Alb das Kind holt und dafür einen Wechselbalg in die Wiege legt«. Nun will ich grade nicht dafür stehen, daß es Wechselbälge gibt; ich, für meine Person, habe nie keinen gesehn, es möchte denn sein, daß die Wärterin der Vernunft der Zeit nicht auf ihrer Hut gewesen wäre. Aber ich weiß, daß gute Gründe vorhanden sind, die Wärterinnen glauben zu machen: daß sie neugeborne Kinder nicht aus den Augen lassen dürfen; und daß diese Gründe bei allen Wärterinnen nicht rechtskräftig sind. Wenn nun jemand, der das auch wußte und die Natur der Wärterinnen besser kannte als unsereins, wenn nun der den Alb und Wechselbalg inventiert hätte, um allen neugebornen Kindern einen Dienst zu tun; wer ist der Klügste, der, der den Wechselbalg auf die Bahn brachte, oder der Ritter Sankt Georg, der ihn mit seinem Lichtspeer erlegte?

Aber, es gibt doch vielleicht keine Wechselbälge! Wohl wahr. Aber wer weiß, wieviel es vielleicht nicht gibt von dem, was andre täglich inventieren; und wer kann sagen, ob alle die hochberühmten Kinder, die in der philosophischen Wiege gewiegt werden, echt sind? Was schadet denn ein Wechselbalg[453] mehr oder weniger, wenn er sonst nur kein Gift unterm Schwanze führt?

Der Erfinder des Wechselbalgs mochte wohl auch wissen, daß es keine Wechselbälge gibt; aber er stellte sich dumm, weil er Gutes stiften wollte. Wer die Kunst versteht, verrät den Meister nicht. Aber der Ritter Aufklärer Sankt Georg verstand die Kunst nicht, plapperte die Sache aus, und störte das Gute. Und ist das so etwas Großes, und des Geschreies wert?

Der Herr Vetter mag nun sagen, wer recht hat: der, der sich klug dünkt; oder der, der sich dumm stellt? Und ob alte Leute nicht Kinder- und Kälbermaß wissen müssen usw. Und soviel von dem ersten Punkt, oder von Aufklärung und Aberglauben.

Der zweite Punkt betrifft Glauben, und den allgemeinen Sturm, den die Vernunft itziger Zeit auf geoffenbarte Religion läuft. Und da habe ich mich bei Ew. Hochedelgeborn gehorsamst erkundigen wollen: ob es damit auch wohl Not haben sollte?

Ich zwar kann es mir kaum einbilden. Denn sieht der Herr Vetter, ich habe, sans compraison, nur ein Geheimnis: Dinte zu machen, und das ist ja nur ein kleines und schlechtes Geheimnis; alle Welt macht Dinte. Aber laß die Vernunft mir doch einmal a priori mein Rezept raten. Und was einer nicht raten kann und nicht weiß, darüber kann er, dünkt mich, doch eigentlich nicht urteilen und richten.

Doch die Vernunft soll so überaus kunstreich sein, daß sie das kann. Nun so mag sie denn beweisen und bewiesen haben, so viel sie will: daß meine Kunst Dinte zu machen nicht tauge, und daß es gar solch eine Kunst nicht gebe. Aber was geht das mein Rezept an? Hab ich's darum weniger? Und wird es darum keine gute Dinte machen? –

Und doch will die Vernunft über das Geheimnis der Religion richteln! – – – – – – – – – – – – – – – –

Und wenn der Schäker noch was Bessers an ihrer Stelle zu geben hätte. Aber das fehlt viel.

Was sie »natürliche Religion« nennen, ist wohl eine feine äußerliche Zucht, aber es ist nicht würdig und wohlgeschickt.

Dem Menschen muß etwas wahr und heilig sein! Und das muß nicht in seinen Händen und nicht in seiner Gewalt sein; sonst ist auf ihn kein Verlaß, weder für andre noch für ihn selbst. Was soll doch einer für Furcht vor Götter haben, die er selbst inventiert und gemacht hat? Und was kann er von ihnen für Trost erwarten? – Auch ist das scharfsinnigste Gemächt der[454] Selbgöttler eigentlich nur zum Staat und für die guten Tage, und ich hab's mehrmal gesehn, Vetter, wenn's was gilt, so lassen sie die Ohren hängen.

Und nun zum Beschluß noch eine Frage: Soll ich meine Kinder die »kritische Philosophie« studieren lassen oder nicht studieren lassen? Die Meinungen über diese Philosophie sind so verschieden. Einige sagen, daß sie von nichts zu etwas, und andre wieder, daß sie von etwas zu nichts führe. Nun ist mir das Nichts von jeher in der Seele zuwider gewesen, und ich habe nie können recht dahinterkommen, was es eigentlich für ein Ding ist. Ich mag es sonst wohl, daß meine Kinder von allem mitsprechen können. Nur muß es sie nicht verderben. Verdorben will ich sie nicht haben, für keinen Preis.

Ich wollte sie so gerne gut haben, lieber Vetter! Gib mir Rat dazu, und ich lasse mir einen Finger für Dich abhacken.

Der ich die Ehre habe mit besonderer Hochachtung zu sein,


Hochedelgeborner

Hochzuehrender Herr Vetter,

Ew. Hochedelgeborn

ganz gehorsamer Diener etc.


Antwort

Spart den Finger, Vetter! Denn, wenn ich Euch probaten Rat geben könnte; so wäre er doch zuwenig, und für das, was ich Euch geben kann, ist er viel zuviel.

Ich protegiere Eure Philosophie mit Leib und Seele, Vetter; doch rate ich immer, daß Ihr Eure Kinder vernünftig werden lasset.

Mit den Produkten der Zeit müßt Ihr es so genau nicht nehmen. Die Vernunft ist heuer Mode, und Ihr wißt wohl, wie es mit den Modewaren ist. Sie sind nicht immer solide gearbeitet, und können es, bei der Menge die gefodert wird und bei der Verschiedenheit der Lieferanten, auch nicht sein. Übrigens halten sie ihre Zeit, und so weiter.

Was den zweiten Punkt, oder den Sturm, der auf geoffenbarte Religion gelaufen wird, anlangt: da sollte ich nicht denken, Vetter, daß es damit Not hätte. Haltet Ihr nur Euer Dintenrezept unter Schloß, und seid ganz ruhig. Die Leute zu Eleusis hatten weiland auch ein Rezept: Dinte oder sonst etwas zu machen, und darin rät die Vernunft nun schon an die dreitausend[455] Jahre, und noch hat sie es nicht geraten. Gewisse Talente kann man ihr nicht absprechen, und es mag wohl sein, daß einige Leute sie zu scheel ansehen und zu despektierlich von ihr denken und sprechen; aber verlaß Dich sicher darauf, daß es Dinge gibt, die sie, ungeholfen, nicht kann und nicht weiß.

Seht, es ist eigends mit ihr bestellt. Wo in abstracto gespielt wird, da ist sie sehr behende in die Karten zu kucken und ihr Spiel zu machen. Aber bei dem Positiven will es nicht fort. Und, Vetter, wenn sie auch Euer und aller Welt Geheimnisse raten könnte und geraten hätte, so liegt doch das Geheimnis der Religion sehr sicher; denn das ist einzig und sondrer Art.

Deswegen blieben auch sonst die größten Weltweisen, wie zum Exempel Newton, Baco, Boyle etc. wenn sie Geheimnisse der Natur oder der Kunst geraten hatten, vor diesem mit Bescheidenheit und Respekt stehen. Und, wenn das neuerer Zeit nicht geschieht; so geschieht das, nicht weil die neuen Newtons besser und mehr wüßten warum sie weitergehen, denn das fällt ihnen selbst wohl nicht ein; sondern weil sie nicht mehr wissen und verlernt haben, warum sie stehenbleiben sollten; es geschieht, weil gewisse Leute, die sonst wenigstens den Wohlstand respektierten, dahin verfallen sind, selbst weiterzugehen und es hierin einer dem andern zuvorzutun; und weil die Welt nach und nach leichtsinnig gemacht und gewöhnt ist, sich dergleichen Dinge gefallen zu lassen, oder gar zu bewundern. Bewundre Du dergleichen Dinge nicht, und bleibe auf Deinem Wege. Du brauchst denn auch nicht umzukehren, wenn der Rausch vorüber sein wird.

Wir fühlen wohl alle die großen Schwierigkeiten der Abschaffung aller Imperative und der Verwandlung der Moralität in Heiligkeit. Aber darum. Wir haben die Idee der Sache; die Tradition sagt: sie ist wahr, und ist geschehen; und uns alle in unserm Innersten verlangt und dürstet darnach. Daß du es nicht begreifen kannst, das hat nichts zu sagen. Wieviel kannst du nicht begreifen, oder lieber was kannst du begreifen von dem was vor Augen ist? Und dies liegt hinter dem Berge.

Wenn einer für sich es nicht glauben kann; so ist das gut. Ein ehrlicher Mann kann nicht glauben, was er nicht glauben kann. Will er aber andre Leute auch nicht glauben lassen, und eine Sache leugnen und bestreiten, die so viele gescheute und tugendhafte Menschen glauben und geglaubt haben; so ist das nicht gut, und man muß ihn der edlen Bescheidenheit erinnern. Und wenn[456] er gar beweisen will, daß die Sache nicht möglich sei; so muß man ihm grade ins Gesicht lachen.

Endlich auf Eure Frage, wegen der kritischen Philosophie kann ich Euch nicht anders als zweischneidig antworten. Seht, diese Philosophie hat viel Gelenke und ist fein ineinandergefügt, und es gehört Talent dazu, zu folgen und sich durchzuarbeiten.

Sind Eure Kinder also muntere Bursche, die da wissen was sie wollen und die an Mut und Geist grade keinen Mangel haben; so laßt sie darangehen, und sich versuchen und ihre Kräfte üben. Sie werden nicht ruhen, bis sie durchhin sind, und dann sehen was sie haben. Und das wird ihnen den Magen nicht verderben.

Sind sie aber nur mittelmäßige Gesellen; so macht ihnen diese Philosophie schwarz, und haltet sie davon zurück. Denn sie bleiben doch nur darin hängen wie die Lerchen im Netz, und das treibt das Geblüte zu Kopf und taugt nicht.

Zwar sie würden nicht alleine hängen, und es würde ihnen an Gesellschaft nicht fehlen. Aber es ist das doch eine unbequeme Art zu existieren.

Und da lob ich mir die Philosophen, die sich setzen, wie die allerneuesten tun.


Lebt wohl, Vetter.

Der ich auch die Ehre habe zu sein

Ew. ganz gehorsamer Diener etc.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 451-457.
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