Postskript an Andres

[570] Da, Du lieber Andres, hast Du Proben von Bacon und Newton; eine Probe von Boyle findest Du vorne pag. 526 u. ff.

Und, wie gefallen Dir diese Philosophen? Heutzutage lautet die Sprache anders.

An Fleiß, Scharfsinn, Einsicht und Geschicklichkeit hat es doch diesen Leuten nicht gefehlt, und es wird wohl nur wenigen einfallen, sich mit ihnen zu messen; erfunden ist sint ihrer Zeit auch nichts, das zu einer andern Sprache berechtigen könnte; und doch wissen sie jetzo alles anders und besser.

Ich leugne Dir nicht, Andres, daß ich an diesem Robert Boyle, an diesem Franz Bacon und an diesem Isaak Newton meine große Freude habe. Nicht sowohl der Religion wegen, die kann, versteht sich von selbst, durch Gelehrte nicht verlieren noch gewinnen, sie mögen klein oder groß sein. Aber es freut, wenn man z.E. so einen der fleißigsten und unverdrossensten Naturforscher, der in ihrem Dienst grau geworden war und mehr von ihr wußte und erfahren hatte, als die meisten von ihr wissen und erfahren haben; wenn man so einen Vogel Jupiters mit dem hohen und scharfen Blick, der den, von den Nachkommen bis itzo mehr bewunderten als benutzten, Plan und Grund zu einer neuen und wahrhaft großen Philosophie gelegt hat; und einen der ersten, wenn nicht den ersten, Mathematiker von Europa, der was Condamine und Maupertuis, durch Messungen unter dem Äquator und am Pol der Erde, über ihre Gestalt fanden, auf seiner Studierstube ahndete und vorhersagte, und durch[570] seine kühne Mathematik und sein Attraktionssystem den Sternhimmel und die ganze Schöpfung in ein neues Licht setzte etc. – wenn man solche Männer mit ihren Einsichten sich nicht weise dünken, und sie, nachdem sie in die Geheimnisse der Natur tiefer als andere eingedrungen waren, lehrbegierig und mit dem Hut in der Hand, wie es sich gebührt, neben dem Altar und den größern Geheimnissen Gottes stehen sieht ... es freut, Andres, und man faßt wieder Mut zu der Gelehrsamkeit, die ihre Freunde und Anhänger wirklich mehr wissen, und doch dabei vernünftige Leute bleiben, läßt, und sie nicht zu Narren und Spöttern macht. Und es tut einen sonderlichen Effekt, Andres, wenn man nun auf der andern Seite von den leichten Truppen mit dem Hut auf dem Kopf vorbeidefilieren und hochweise die Nase rümpfen sieht.

Aber Du sagst, es habe freilich mit dem Naserümpfen nichts zu bedeuten; Du möchtest aber gerne wissen, wie es möglich sei, da die Sachen nach wie vor dieselben sind, daß Leute, denen man doch Scharfsinn nicht absprechen kann, sie jetzt so anders ansehen und urteilen; und wie die Religionsverachtung so allgemein geworden?

Wer weiß das, Andres, und wer kann das sagen?

In der physischen Welt zieht von Zeit zu Zeit, sonderlich im Frühjahr, man weiß nicht nach welchen Gesetzen, so ein kalter giftiger Nebel durch Gärten und Wiesen, der, auf dem Strich den er trifft, die Pflanzen und Gewächse übel zurichtet. Es muß wohl auch so in der moralischen Welt sein. Denn da ist auch, seit dreißig vierzig Jahren, so ein, alles Positive wegwerfender und kein Gesetz außer sich anerkennender, Geist durch die gelehrten und durch die politischen Gärten und Wiesen gezogen. Gewesen sind diese Geister immer in der moralischen Welt, denn sie sind ihr πρωτον ψευδος; und was sie gerade so in den Zug gebracht hat, weiß ich nicht; aber gefördert und fortgeholfen haben sie sich einander wechselsweise. Und wer recht behält, weißt Du wohl, wird von den meisten gelobt und angesehen, als ob er auch recht habe; und, was von den meisten gelobt wird, weißt Du wohl, dem geht man gerne nach.

Sieh nun, durch eine solche Denkart ist, im allgemeinen, der Geschmack an der Erfahrung mehr verleidet und der Ekel daran mehr vermehret worden.

Es erfordert nämlich Geduld, Ruhe und Deferenz, zu den Füßen der Erfahrung zu sitzen und auf ihre Winke zu warten,[571] sich oft sein Konzept, wenn man sie meint verstanden zu haben, wieder von ihr verrücken und sich überhaupt von ihr hudeln, placken und plagen zu lassen; der Bau aus ihren Backsteinen geht nur langsam vonstatten, und fällt, gleich, nicht immer sehr in die Augen; es ist langweilig, an ihren Krücken gehen zu lernen etc. Und es ist viel leichter und lustiger und glor-reicher, ohne sie Schlösser zu bauen und auf seinen Flügeln kühn und hoch in Lüften zu schweben. Nur jenes, sagt Boyle, macht bescheiden und bessert, und dieses blähet auf und macht leichtsinnig.

Vernunft und Erfahrung sind hier einmal Mann und Frau. Wenn die beide einträchtig und ordentlich miteinander leben und haushalten, so hängt der Himmel nicht gleich und immer voll Geigen; aber man krüppelt sich hin, und bringt doch mit der Zeit einige Pfenninge für die Nachkommen zusammen. Wenn aber dem Mann die Zeit bei der Frau lang wird und er sie sitzenläßt und allein und auf eigne Hand leben will; so verfällt er, ohne daß er es selbst weiß und will, auf Torheiten und Unsinn, und verführt am Ende die Polizeibedienten mit.

Seine Torheiten gingen uns nun weiter nicht an, Andres; aber wenn man bedenkt, daß sie dadurch so manchen, der es nicht besser versteht, irremachen und um den Segen des Christentums bringen; so muß man sie hassen, und ich hasse sie von ganzem Herzen und hänge ihnen, wo ich nur kann, eins mit Vergnügen an. Und doch und trotzdem bin ich so ein alter Narre, daß es mir im Grunde doch leid sein kann, und ich ihnen, wenn ich könnte, lieber was anders täte.

Sieh Andres, und so übersetze ich denn, in Ermanglung eignen Vermögens, daß wenigstens die Leute, die es vielleicht nicht wissen und sich durch das Wort Philosoph blenden lassen, sehen, wie Philosophen wohl sonst über Religion und Christentum gesprochen haben.

Sieh Andres, darum übersetze ich, und darum habe ich jene große Schatten bemüht. Und wer weiß, wozu es gut ist; der reiche Mann meinte ja auch: »wenn einer von den Toten zu ihnen käme«.[572]

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 570-573.
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