Dritter Brief

[269] Du frägst: welche Geschichten mir die herrlichsten dünken? Alle, Andres, alle! ... ein jedes Wort das aus seinem Munde gegangen ist, eine jede Bewegung seiner Hand ... seine Schuhriemen[269] sind mir heilig. Und wer kann sich was wollen dünken lassen?

Wenn er sagt: »Friede sei mit euch«; so haben wir unser ganzes Leben zu tun und werden es wohl im Himmel erst verstehen lernen, was das einzige Wort Friede in seinem Munde heiße.

Andres, Du kannst denken, daß alles, was ihn angehet und was er gesagt und getan hat, viel Sinn und Bedeutung habe; und daß wir zu klein sind, über die Herrlichkeit der Geschichten zu richten.

Indes machen sie doch, wie sie dastehen, auf unser Herz verschiednen Eindruck; und da, muß ich sagen, freuen mich die am meisten, wo er vom ewigen Leben spricht und von einem Tröster den er senden will; wo er den Blinden die Augen auftut; wo er die Seinen liebt bis ans Ende und mit ihnen das Abendmahl hält, und wo er Tod und Teufel meistert.

Denk einmal, Andres, wenn der Teufel, der so mächtig ist und der nur Freude daran hat zu quälen und alles um sich her elend zu machen, wenn der freie Hand und niemand über sich hätte; was würde aus der Welt und uns armen Menschen werden! Muß es einen denn nicht freuen, wenn man sieht, daß er einen Übermann hat, und daß grade der sein Übermann ist, der da half und gesund und selig machte alle die zu ihm kamen, und des Barmherzigkeit kein Ende hat? Und der Tod! Er ist doch schrecklich, Andres, und der Wurm am Zaun krümmt sich vor ihm, denn er nimmt uns alles. Wenn Du nun siehst, daß unser Herr Christus zu Nain einen Toten erweckt, den sie zu Grabe trugen, und zu Bethanien einen der schon vier Tage im Grabe gelegen war etc.; wenn Du ihn nun von Hütten des Friedes sprechen hörest, wo wir unsern Anselmo wiedersehen sollen, und wo die guten und frommen Menschen aller Zeiten und Völker sollen versammlet werden; wenn Du ihn nun sagen hörest, daß wer an ihn glaubt nicht sterben soll ob er gleich stürbe; – freut Dich das nicht, Andres? und wünschest Du nicht von Herzen, an ihn zu glauben? Aber, »der Glaube ist nicht jedermanns Ding«, und er steht nicht so zu Gebot, Andres. Die Apostel selbst, die um ihn waren und die gesehen und gehört hatten, sprachen zu dem Herrn: »Stärke uns den Glauben«. – Ich sehe an dem Kananäischen Weiblein und andern Exempeln: daß man wenig wissen kann und großen Glauben haben; und an den Pharisäern etc. daß man viel wissen kann und doch nicht glauben. – Christus sagte zu den Pharisäern: »Wie könnet ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmet«;[270] und Paulus spricht von »Menschen von zerrütteten Sinnen, untüchtig zum Glauben« usw.

Daher sehe ich die Geschichten, wo vom Glauben die Rede ist, fleißig an, und merke auf den Sinn solcher Leute, um daraus zu lernen: nicht was ich noch wissen muß um glauben zu können, sondern was ich noch vergessen, mir aus dem Sinn schlagen und von mir abtun muß, damit der Glaube recht an mich haften könne.

Dein etc.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 269-271.
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