Sechstes Exempel

Sechstes Exempel

[228] Der Kerl da mit der spitzen Nase war vor Jahren dein Nachbar, hat dir ohne deine Schuld alles gebrannte Herzeleid angetan, und hat durch Lügen und Trügen dich um Haus und Hof[228] gebracht. Du hast 'n Haus wieder, er aber hat keins, wie es auch zu gehen pflegt – und nun triffst du ihn hier in Schnee und Regen auf der Landstraße bettelnd, und sein Weib und seine Kinder liegen halb nacket am Graben.

Kannst du ihm nicht vergeben und vergessen; nun so reite vorbei und sieh nicht hin. Denkst du aber in und bei dir selbst, daß der Beleidiger immer am übelsten daran ist, und daß du willfährig sein sollst deinem Widersacher bald dieweil du bei ihm auf dem Wege bist; denkst du, wieviel uns Gott vergeben muß, und du siehst seine Sonne über dir und ihm am Himmel stehen, und dir fährt 's durchs Herz; – nun so fasle auch nicht und mach's ihm nicht sauer. Geh auf ihn zu, gib ihm die Hand und erkundige dich, wie ihm könne geholfen werden. – Und wenn du weggehst, decke das Weib und die Kinder mit deinem Mantel zu.

Nun Vetter, Gott bewahre dich für einen Nachbar, der dir so viel Böses tue und dir so viel Verdruß mache. Aber glaube mir, wenn du so ohne Mantel weiterreitest; es ist alles reichlich bezahlt, und mancher würde dich beneiden wenn er's wüßte, und sich wundern was in der Großmut stecke. Und doch hat er vielleicht 'n ganzes Alphabet in Prosa und in Versen von der Großmut und Feindesliebe ans Licht gestellt.

Leichtfertige Schriften und die 'n Verderb der Welt sind geraten gewöhnlich am besten, weil ihre Verfasser diese Empfindungen haben, und mit sogenannter Begeisterung schreiben. Wenn sie aber Empfindungen andrer Art schreiben wollen; so will's nicht fort, und sie müssen sich hineinsetzen, wie das genannt wird. Verdirb du dir deine Zeit nicht mit dem Hineinsetzen. Wenn ein großer edler Charakter was Liebenswürdiges und Schönes ist; so laß dir 's sauer um ihn werden. Es ist 'n ander Ding: einen zu haben; als: einen aufs Papier und auf den Theater hinzuklecksen, und wenn du noch so gut und con amore klecksen kannst.

Quae professio, sagt ein Kirchenvater, multo melior, utilior, gloriosior putanda est, quam illa oratoria, in qua diu versati non ad virtutem, sed plane ad argutam malitiam juvenes erudiebamus.


Ich könnte dir der Exempel leicht mehr machen, aber Holzschnitte kosten Geld, und du kannst sie dir ebenso leicht selbst machen.[229]

Übrigens wirst du an diesen Ernst – und Kurzweil – Exempeln bemerket haben: Erstlich daß Ernst ganz natürlich sei.

Und so ist es auch. Die wahrsten Empfindungen sind immer die allernatürlichsten, auch in der Religion. Denn es gibt auch in der Religion Kurzweil und Ernst.

Zweitens wirst du bemerkt haben: daß wahre Empfindung an und in sich selbst genug habe, und die Tür ihres Kämmerleins hinter sich zuschließe; daß Kurzweil hingegen nach außen hantiere, und Tür und Fenster öffne.

Und so verhält es sich in Wahrheit, auch mit den höhern Empfindungen. Und wo so nach Menschenbeifall geangelt wird, da ist's nicht recht rein und richtig.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 228-230.
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