60. Vom Branntewein.

[172] Mündlich in Gilde.


Es war einmal ein Soldat, der sich ganz und gar vom Trunke beherrschen ließ. Da er übrigens gut war, suchten die Offiziere ihm jenes Laster abzugewöhnen. Eines Tages hatte er Zimmerwache; da stellten sie frühmorgens eine Flasche Branntewein auf den Tisch, legten funfzig Thaler daneben und sagten, wenn er während des Verlaufes zweier Stunden das Trinken laße, solle er all' das Geld haben.

Arbeit ist gut für Aberwitz; aber Müßiggang ist des Teufels Ruhebank. Während des Kehrens und Ordnens gedachte der Soldat weder des Geldes noch des Brannteweins; kaum aber war letzteres Geschäft beendet, als ihm beides lebhaft vor die Seele trat, und er zum Tische gieng und fand, daß das Geld gar lieblich anzuschauen und von dem Branntewein gut zu trinken sei. Da er aber aus Erfahrung wußte, daß bei ihm der Gaumen stärker sei als Gesicht und Gehör, Vernunft und Verstand; so kehrte er sich rasch ab, gieng in der Stube auf und ab, hin und her und sagte dabei:


»Branntewein, du sollst wohl stehn!

Das Geld ist mir 'mal lieber!«
[172]

Darauf gieng er wieder auf und ab, hin und her, und so oft er die Flasche erblickte, sprach er:


»Branntewein, du sollst wohl stehn!

Das Geld ist mir 'mal lieber!«


Nach etwa einer Viertelstunde blieb er am Tische stehen, sah die Flasche an und sagte: »Möchte doch wißen, ob's wohl vielleicht Doppelschnapps wäre.« Doch kehrte er sich wieder weg, gieng auf und ab, hin und her und sagte:


»Branntewein, du sollst wohl stehn!

Das Geld ist mir 'mal lieber!«


Nach abermal fünf Minuten sagte er: »Ei, muß doch wißen, was es für Ware ist! Will 'mal proben; das kann keiner sehen.« Doch setzte er die Flasche wieder hin, gieng auf und ab und sagte:


»Branntewein, du sollst wohl stehn!

Das Geld ist mir 'mal lieber!«


Nach einer Minute gieng er wieder hin, nahm die Flasche, setzte sie an den Mund und probte. Dann stellte er sie hin und machte Kehrum, besann sich aber sogleich, probte wieder, und probte und probte, und probte alles aus. Und auf einen Schemel sinkend, sprach er:


»Laß das Geld zum Teufel sein!

Der Branntewein ist mir lieber!«


Quelle:
Carl und Theodor Colshorn: Märchen und Sagen, Hannover 1854, S. 172-173.
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