5.

[378] Vom Petersturme, dem altersgrauen Senior der zwanzig oder fünfundzwanzig Türme Münchens und seiner Vororte, schlägt die siebente Stunde; sonor, wuchtig, wie mit des schönsten Bierbasses tönender Allgewalt schmetterts durch die heiße, dumpfe Abendluft der bayerischen Kunst- und Biermetropole. Der erste strahlende blitzblaue Frühlingstag geht zur Ruhe und schenkt den Werkleuten in Schreibstuben und Ateliers, in Fabriken und Handwerksbuden den ersehnten Feierabend – den Feierabend vor dem Himmelfahrtsfeste Christi.

Sieben! Und nun brummt's und tönt's in die Runde mit eherner Stimme von Turm zu Turm Erlösung von Staub und Hitze und Schweiß ... Erlösung beim frischen Anstich, beim schäumenden Maßkrug in der gemütlichen Kneipe, im traulichen Kellerschatten.

Ja, das war ein Tag, den man loben[379] konnte nach einem traurigen Mai voll Regen und Frost, voll Blütentod und Blättersterben, voll Kot und Unlust – einem wahren Schimpf- und Schandmonat, wie man ihn selbst in München und auf der ganzen bayuwarischen Hochebene seit Menschengedenken nicht mehr erlebte. Und morgen ist Himmelfahrt! Wenn nur das schöne Wetter nicht wieder trübe Miene zeigt! Und in zehn Tagen ist Pfingsten, das liebliche, lockende Fest mit seinen Ausflügen an die anmutigen Gelände des Starnberger Sees, an den lächelnden Kochel- oder den melancholischen Walchensee, hinein in die blauen Berge mit ihren Thälern und Schluchten und himmelanstarrenden Felsen, zu Wiese und Wald, zu Jägern und Adlern und Gemsen, zu allen Wundern der unaussprechlich reichen und schönen Hochlandswelt! Da steht man, der verlogenen, unheimlich widerspruchsvollen Kulturmaskerade entrückt, endlich wieder auf du und du mit dem ewigen Naturgeist, da badet man sich die bedrückte und bestaubte Seele rein und frisch im unverdorbenen Äther, der die Zinnen der Alpen umflutet wie an ihrem Schöpfungstag.

Pfingsten! Morgen ist erst Himmelfahrt, wie vieles kann sich bis dahin noch ändern![380] Man ist so geängstigt in dieser trüben, unheilbrütenden Zeit, hinter jeder Hoffnung droht ein Fragezeichen – und die Krankheit des Königs und die nicht länger zu verschleiernde Notwendigkeit eines Wechsels im obersten Landesregiment wirft einen verdüsternden Schatten auf jede Freude. In ganz München verhehlt sich's fast kein Mensch mehr, daß von heute auf morgen die Katastrophe der Entmündigung des Königs und seiner Thronenthebung eintreten kann, und je tieferes Schweigen die sonst so lauten Zeitungen sich plötzlich auferlegt, desto vernehmlicher spricht jetzt die Stimme des Volkes und unheimliche Mähr geht von Mund zu Mund ...

Aber heute war doch ein goldner, ein sonniger Tag!

Meister Achthuber legte sein Werkzeug aus der Hand, um sich zur Ausschußsitzung für die Zentenarfeier König Ludwigs zu rüsten, die eine glänzende, epochemachende Huldigung der Künstler, für das erhabene Fürstenhaus und die gesegnete Kunststadt München, die fröhliche Heimat so vieles Großen und Gewaltigen, was je menschlicher Schöpfergeist ersonnen, werden sollte. »Saure Wochen, frohe Feste«, zitierte er aus[381] seinem Goethe und fügte improvisierend hinzu: »Hell Gemüt bleibt doch das Beste!« Dann steckte er seinen Atelierschlüssel in die Tasche.

Biswanger schloß sein Kontor und rief im Vorübergehen seinem jungen Freunde Pfaffenzeller, der sich in seiner neuen Vertrauensstellung im Raßlerschen Geschäft nicht genug thun konnte und noch emsig in seinen Kontrollbüchern hantierte, einen guten Abend zu. »Was ich Sie fragen wollte, Herr Pfaffenzeller, haben Sie an den Architekten Zwerger geschrieben, daß er den Termin nicht versäumt?«

»Zu dienen, Herr Biswanger, ich weiß sogar schon aus seiner heutigen Privatmitteilung, daß er noch vor Pfingsten mit seiner Braut Flora Kuglmeier in München eintreffen wird.«

»Sehr gut. Je eher, desto besser. Man kann nicht wissen, wie sich der Zustand des Kommerzienrats nach dem letzten Schlaganfalle macht. Weiler ist definitiv beseitigt, das steht fest. Es ist notwendig, daß die neue Gesellschaft keine Zeit verliert und so bald als möglich in Aktion tritt. Die Bodenerwerbungen sind dem Abschluß nahe. Also das Eisen geschmiedet, ich meine Raßler, Schmerold und Kompagnie, so lange es heiß ist.«[382]

»Ganz meine Meinung, Herr Biswanger.«

»Wissen Sie, wenn jetzt über kurz oder lang der Thronwechsel ...« der alte, etwas verwachsene Herr sah sich vorsichtig um. Pfaffenzeller nahm seinen Gedankengang auf: »Natürlich tritt er in kurzem ein und wir bekommen neue Verhältnisse, neue Menschen, die großen Münchener Plänen und Unternehmungen gewiß nur günstig sein können.«

»Wir verstehen uns,« schloß Biswanger befriedigt.

Es ist halb acht Uhr. Die Büreaus, Werkstätten, Läden und Gewölbe sind geschlossen. Die Quaistraße ruht im tiefen Schatten, während in der Maximilianstraße die Abendsonne mit blendender Helle ihre letzten Strahlen verfeuert. Der Häuser lange, verstaubte Reihe steht wie ausgestorben. Aber in allen Straßen und Gassen, die ins Freie führen, wogt ein ungezähltes Heer, ein phantastischer Auswandererzug: Männer, Weiber und Kinder, Vornehme und Geringe, viele bepackt mit Körben und Bündeln, wimmeln in der nämlichen Richtung: hinaus, hinaus! Und neben dem Fußvolk in Civil-, Militär- und Studententracht rasseln in hochaufwirbelnden Staubwolken, sonnig durchglüht,[383] die Droschken, die Pferdebahnwagen, bis auf den letzten Platz, manche darüber hinaus besetzt, Privatfuhrwerke und die sausenden Vehikel der Radfahrer. Hier in bedächtigerer Wallfahrt, dort in hastigem Eilschritt mit Rippenstößen rechts und links, drängt alles aus dem Zentrum der erstickend heißen Altstadt nach der freieren, luftigeren Peripherie: nach dem Gürtel der Bierkeller diesseits und jenseits der Isar, wo den Durstigen und Ermattenden die erquickende Labe winkt.

Der »große Unbekannte« mit dem frischen Siegfriedsgesicht aus Schlichtings studentischem Freundeskreise, Herr Bonzhaf aus Köln, der so ungern seinen Namen nannte, weil ihn seine Kameraden immer mit einem rollenden R erweiterten und das O zu einem U herabtönten, war heute in besonders glücklicher Laune. Er hatte guten Grund dazu. Er hatte ein glänzendes Examen hinter sich und die Anwartschaft auf die Hand des Fräuleins Elsa Schmerold vor sich. Er glaubte es wenigstens im Übermute seines allzeit so siegreichen Herzens. Warum nicht? Sein Vater, ein ansehnlicher Kölner Fabrikant und alter Geschäftsfreund des Konsuls Schmerold in der Quaistraße, war zu[384] Besuch gekommen. Seit dem Tode des Königs Max hatte er München nicht mehr gesehen.

»Nun Junge,« sagte der joviale alte Herr zu Bonzhaf junior, als sie über die rauschende Isar schritten, »sag' mir einmal, was Du von der Kunststadt München hältst? Du hast sie nun wohl genügend studiert. Mir ist hier alles neu.«

Dabei suchte Bonzhaf senior seinen Sohn auf eine Bank in einer Ausbiegung der Maximiliansbrücke zu ziehen, denn der Alte war nicht mehr gut zu Fuß und wollte die Frage und deren umständliche Beantwortung als geschickten Vorwand für längere Rast ausnützen.

»Kunststadt? Bierstadt willst Du sagen!«

»Meinetwegen Bierstadt. Nun mal los!«

»Aber das ist lang und macht unerträglich durstig.«

»Schadet nicht; das Hofbräu wird uns dann um so besser munden. Setz' Dich!«

»Gut,« dachte Bonzhaf junior, »so will ich dem maroden Alten ein Loch in den Bauch reden – Strafe muß sein.« Dann setzte er sich und hob an, während Bonzhaf senior gemächlich eine Zigarre in Brand setzte: »München ist die erste Bierfestung der Welt. Ganz[385] im Mittelpunkt ragt die klassische Gambrinus-Zitadelle aus urbayuwarischer Zeit: das königliche Hofbräuhaus. Rings um die Stadt legt sich wie ein undurchbrechbarer Ring der Wall der Bierkellerbauten mit vielen trutzigen Vorwerken und Sperrforts nach allen Himmelsgegenden. Auf welchen Straßen, Land-, Wasser- und Schienenwegen der Fremdling auch nahen möge, er muß durch den Gürtel der Kellerburgen; überall knallen ihm die Spundpfropfen, entgegen, kriegerische Biergesänge mit Banzenschlag und Deckelgeknatter umbrausen und betäuben ihn. Die Trommeln wirbeln, die Zinken schmettern, von uniformierten Militärkapellen wird der Sieg des alles bezwingenden Nationalgebräus von den hohen Kellerbasteien in die Welt hinausgeblasen. Gleich bei der Einfahrt in den Zentralbahnhof ragen rechts auf cyklopischem Gemäuer die mächtigen Kellerburgen der Spaten-, Pschorr- und Hackerbräuerei, flankiert von unzähligen, Tag und Nacht fürchterlich qualmenden, hohen, runden Feuertürmen, wahrend links auf natürlichem Hügel, gar traulich bewaldet, der Augustiner- und Kandlerkeller sich recken in der anspruchsloseren Form antiker Bierstadel. Naht der Fremdling auf der Nymphenburger[386] Straße, so stößt er auf die wuchtigen Fortifikationen des Arzberger- und Löwenbräukellers, ausgeführt im reichsten Renaissancestil; kommt er von der Rosenheimer Landstraße, so ist erst recht kein Entrinnen: da liegen links und rechts hart am Wege, der sich isarthalwärts zu einem förmlichen Engpasse gestaltet, der umfangreiche Zengerkeller (jetzt bürgerliches Bräuhaus genannt, im Biedermannsstil), der Kuppelhallenbau des Münchener Kindls, der Eberl- und Sternecker – Keller, der alte Franziskaner- und Stubenvollkeller, an der abzweigenden Preysing- und Wienerstraße der Dürnbräu- und Metzgerkeller und gegenüber der Leistbräu- und der neue riesige Hofbräuhauskeller. Wer aber vorsichtig die großen Heerstraßen umgehen und sich zum Beispiel vom Bavariapark und der Theresienhöhe her in die Stadt, schleichen wollte, der würde plötzlich von einer ganzen Kellerflanke aufs Korn genommen: Bavaria-, Pollinger-, Hirschbräu- und andere Keller – wer nennt die Namen alle? – kämpfen hier Schulter an Schulter. Nicht weniger kellerbefestigt ist der Flußlauf der Isar, die nicht müde wird, die Wunder und Siege des berühmten Salvatorkellers zum Zacherl am Nockher-Berge, wo die[387] mörderischsten Bockschlachten zur Zeit der Frühlingstag- und Nachtgleiche geschlagen werden, den Schwerhörigsten in die Ohren zu rauschen. Damit in früheren Zeiten der weniger biergelehrte Fremdllng wußte, wessen er sich von der Eigentümlichkeit der guten Stadt München zu versehen habe, erbauten die Ureinwohner die bis in die Wolken ragenden Doppeltürme der Frauenkirche in Gestalt von zwei kolossalen Maßkrügen, so da weithin über die bayerische Hochebene sichtbar, das fromme Wahrzeichen von München geblieben sind bis auf den heutigen Tag. Wessen Gehirnzentren aber nicht von der bierologischen Wissenschaft erleuchtet, wessen Augen und Ohren nicht durch den ungeheuren, auf ein Ziel zuwogenden, von Gesang und Musik und Anzapfungslärm empfangenen Menschenstrom der rechten Erkenntnisvermittlung fähig wären, der vermöchte schon durch sein Riechorgan die Nähe der verborgensten Keller und Bierkasematten erraten; denn eine ungeheure Duftwolke von Malz und Hopfen, Rettig und Käse, Schinken und Knoblauchwurst, Kalbsbraten und Dünngeselchten mit Sauerkraut und Senf umhüllt in nie geahnter Stärke diese biergesegneten Orte. Hat sich aber ein Fremdling in[388] den entlegeneren Gassen verirrt und strebt er sehnsüchtig ins Freie zu einer klassischen Gambrinuskultstätte, so darf er sich nur dem ersten besten Pilgerchor anschließen und sich vertrauensvoll fortziehen und drängen und treiben und stoßen lassen, schließlich wird er ganz unfehlbar an der rechten Stelle angeschwemmt. In Sälen, Hallen, Gärten, die oft über zweitausend Biergläubige fassen, wird auch er noch einen Platz und einen Maßkrug, etwas Schweinernes oder Kälbernes finden, um sich für alle Fährlichkeit und Drangsal des Weges zu entschädigen und seines wahren Münchener Lebens und Strebens froh zu werden. Amen.«

»Brav, mein Junge, Gott hat Deine Münchener Studien gesegnet. Der Münchener ist aber nicht nur Bier-, er ist auch Kunststädter erster Ordnung. Sag' mir auch über die Kunststadt Deinen Spruch!«

»Ach, die Kunst ist zu lang – und es mischt sich so viel Fabel und Dichtung hinein, daß man bei der herrschenden Hitze und Meinungsverschiedenheit nur im Schatten der Maßkrüge davon reden soll. Also laß uns erst Deckung suchen. Du kommst ja doch zur Königsfeier wieder, da kannst Du Dir aus der großen[389] Künstlerparade mit ihrem Drum und Dran selbst Belehrung schöpfen. Ich glaube übrigens, daß in München mehr vorzügliche Biere gebraut, als vorzügliche Bilder gemalt werden und daß der Bierexport weit mehr Geld nach München bringt, als der Bilderexport. Die Industrie hat die Kunst überflügelt, was auch kein Unglück ist.«

»Hör' mal,« sagte der alte Bonzhaf, sich mühsam erhebend, »an diese Königsfeier glaub ich nicht. Wie soll sich so etwas mit der schauderhaften Geschichte von des Königs Irrsinn und Entmündigung zusammenreimen lassen? Den, Bayern möcht' ich mir doch ansehen, der noch Lust verspürte, unter solchen Umständen Jubelfeste zu begehen ...«

»Also glaubst auch Du, daß Ludwigs Regierungstage gezählt sind?«

»Jawohl, glaub' ich das. Es geht nicht mehr anders.«

»Mir kommt's unglaublich vor. Ich fass' es erst, wenn man's mit allen Glocken läutet, an allen Straßenecken verkündigt ...«

– – – –

Eine Woche später verkündeten Plakate an allen Straßenecken, daß sich das Ungeheuere und[390] Unabwendbare vollzogen. Der Schicksalsspruch war gefallen. In dumpfer Trauer, sprachlos, verwirrt von so viel Unglück im erhabenen Königshause, vernahm ihn das Volk. Dunkel sind die Wege der Vorsehung.

Max v. Drillinger saß mit Fifette am Frühstückstische des Gasthofes zur Sonne in Riva am Gardasee. Er war in denkbar schlechtester Laune, sein Blick war bald stumpf nach innen gekehrt, bald irrlichtelierte er in jähem Glanze. Sein Gesichtsausdruck war übernächtig, verzerrt, die Farbe käsig; strohern hingen die Haare über die durchfurchte Stirn. Seine blasse Hand zitterte, als er die Tasse an die blutleeren Lippen führte. Fifette stocherte sich die weißen Zähnchen und blätterte zerstreut in den Zeitungen. Nicht die bösen Nachrichten von Brigittas verschlimmertem Zustande, die ihm Resl in kaum entzifferbarem Köchinnendeutsch geschrieben hatte, waren es allein, die ihn so verstörten und an seinen unmäßig strapazierten Nerven wie mit glühenden Zangen zerrten; es kam noch etwas anderes dazu. Am Abende vorher hatte er eine Eifersuchtsszene mit seiner Reisegesellschafterin auf radikale Weise dadurch abzukürzen versucht, daß er die drei letzten unerbrochenen Briefe von[391] Frau Raßler aus dem Geheimfach seines Koffers hervorholte und vor Fifette hinlegte. »Wähle einen, erbrich und lies ihn – und urteile dann selbst, wie ich das sogenannte Verhältnis mit jener Frau gelöst habe, wer der Abschiedgeber gewesen, sie oder ich. Sieh her, alle drei Siegel sind unverletzt. Ich kann Dir also kein X für ein U vormachen.«

Schweigend ergriff Fifette das kleinste Briefchen, erbrach es und las, dann schob sie es Drillinger hin. Er wurde bald rot, bald blaß und ein konvulsivisches Zittern schüttelte seinen Körper, nachdem er die wenigen Worte gelesen: »Erinnere Dich Deiner Frage, was ich unter gewissen Umständen thun würde ... Mich töten und Dich ... Die Umstände sind eingetreten ... Ich hoffe nicht, daß Du so feig sein wirst, Dich dem Urteil durch die Flucht zu entziehen ...«

Fifette sprach: »Ich verstehe nicht, ich ahne nur. Ich hasse den Feigling. In dieser Stunde noch würde ich abreisen, hätte ich das Geld dazu. Schaff' das Geld!«

»Morgen früh.« –

Drillinger sah auf die Uhr und fühlte nach dem Wechsel in seiner Brusttasche. In einer[392] halben Stunde konnte er zum Bankier gehen. Dann war's aus.

Als er sich erheben wollte, wies Fifette mit dem Zahnstocher auf ein Telegramm in der Zeitung. »Es ist entsetzlich, der König wegen Wahnsinn abgesetzt.« Sie stand auf und ging, in ihr Taschentuch schluchzend, hinaus. Der König, vor dem sie gesungen, von dem sie ein kostbares Andenken am Arme trug, von dem sie wie von einem Gotte dachte und schwärmte ... Entsetzlich!

Seiner Sinne kaum mehr mächtig, stürzte eine halbe Stunde später Max v. Drillinger aus der Wechselstube. Der Bankier hatte ihn mit dem Bedeuten abgewiesen, die vorgelegte Geldanweisung sei ein ganz wertloser Kellerwechsel, der Aussteller Weiler in München sei nach einer soeben eingetroffenen Depesche bankrott und flüchtig und werde von der Polizei gesucht, auch wegen Verdachts der Spionage u.s.w. Drillinger hörte den Geldwechsler gar nicht zu Ende. Bankrott! Das Wort traf ihn wie ein Donnerschlag.

Fifette brachte durch Versetzen ihrer Pretiosen, auch des Königs Armreif war darunter, die notwendige Summe auf, um Drillingers Rechnung[393] zu bezahlen und ihm eine Fahrkarte nach München zu kaufen. Sie selbst blieb bis auf Weiteres im Gasthof zurück, wo sich ein blutjunger Leutnant von den österreichischen Kaiserjägern vergeblich bemühte, sie zur Annahme seiner, guten Dienste zu bewegen. – –

»Weißt Du's gewiß, Gabriel, das Preßbanditennest ist von polizeiwegen aufgehoben worden?« fragte Doktor Trostberg seinen aufgeregten Diener.

»Hier steht's schon in der Zeitung.«

»Wahrhaftig, da steht's: wegen eines unflätigen Artikels über den entmündigten König ... Jetzt will ich doch noch einmal nach dem Baron Drillinger fragen. Es ist unglaublich, daß er sich auf abenteuerlichen Wegen irgendwo im Auslande herumtreiben sollte, nachdem in seiner Vaterstadt alle Gemüter in Aufruhr sind und die folgenreichsten Ereignisse Schlag auf Schlag folgen. Ich bitte Dich, Gabriel, nimm Deinen wurmstichigen Kopf zusammen und mache mir jetzt keine Dummheiten.«

»Ja, wir sind merkwürdige Zeitgenossen, Herr.«

Doktor Trostberg klingelte noch vor Abend an Drillingers Thür. Er hörte Rufen und[394] Schreien aus heiseren Kehlen. Endlich wurde ihm von einem Menschen mit gerötetem Gesicht und wilden Manieren aufgethan. »Wer sind Sie?« fragte Trostberg den fremden Mann, der offenbar betrunken war.

»Geht keinem Menschen was an, aber wenn Sie's wissen wollen, ich, ich bin der Floßerfranzl von Tölz. Was wollen Sie?«

Nachdem er den Betrunkenen mit den Worten »Ich bin der Doktor Trostberg« beiseite geschoben, trat er ein.

»Ja, der, der Doktor wenn Sie sind – Sie, da kommen's fein zu spät. Die Alt' liegt in, in den Zügen.«

Während der Floßknecht in die Küche zurücktaumelte, ging Trostberg auf das Zimmer zu, aus dessen halb offener Thür ihm wüstes Lachen und Gekreisch entgegentönte.

»Alte Hex, jetzt bist hin, hahahi; magst noch ein Schlückerl von dem Roten? Hast mir so lang das Maul sauber g'halten, gelt, hihi, aber jetzt sind wir Herr, Du Sakra.« Und das besoffene Weibsbild warf sich über das Bett der Sterbenden und lachte und tobte, schlenkerte die Beine und schüttelte die alte Frau, die unter[395] diesem bestialischen Angriff ihren letzten Seufzer aushauchte.

»Resl, nimm Dich z'amm, der Doktor!« schrie der Floßknecht aus der Küche.

Entsetzt war Trostberg davon geeilt, um polizeiliche Hilfe zu holen.

Am nächsten Morgen stand Max v. Drillinger im Büreau des Münchener Polizeidirektors. Er besann sich und besann sich, allein er vermochte sich nicht zu sagen, wie er dahin gekommen und was er wolle. Nachdem er dem Beamten seinen Namen genannt, stellte dieser eine Reihe von Fragen nach dem Grunde seiner Reise, seinen Beziehungen zu dem Bankier Weiler und dem Franzosen Paillard – merkte aber sofort, daß der Gefragte lauter verkehrte Antworten gab. Der Polizeidirektor, anfänglich kühl wie ein Untersuchungsrichter, sagte jetzt bestürzt: »Aber ich bitte Sie, Herr Baron, verstehen Sie nicht, was ich frage oder wollen Sie nicht verstehen? Warum geben Sie mir so ungereimte Antworten?« Nun blickte Drillinger dem Direktor starr ins Gesicht, wackelte mit dem Kopfe und begann bitterlich zu weinen. Endlich stotterte er: »O über mich Unglücklichen, ich fühle, daß ich wahnsinnig bin, Herr ...[396] wahnsinnig, ein armes Marterl ...« Dann brach er kraft- und besinnungslos zusammen.

Der Chef der Polizei klingelte einem Unterbeamten. »Der Mann hier ist in Gewahrsam und ärztliche Beobachtung zu nehmen. Ich habe jetzt keine Zeit, mich mit ihm weiter zu befassen.«

– – – –

Der Pfingstmorgen brach an, aber es wollte nicht Tag werden. Der Himmel war wie mit dichten Trauerflören verhangen, wie unendlicher Thränenerguß rieselte es aus den schweren Wolken hernieder.

Der König ist tot! Des Königs Leiche und die seines Arztes v. Gudden wurden im Starnberger See gefunden! Die Schreckensbotschaft ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die unerhörte Tragik dieses königlichen Lebens- und Todesrätsels beherrschte alle Geister mit lähmender Wucht.

Im Hause des Konsuls Schmerold in der Quaistraße war die Abendmahlzeit still beendet worden. Man hatte kaum die Speisen berührt, jeder Bissen quoll im Munde. Wie ein Bann lag es auf den Gemütern. Der große, eichene Tisch wurde abgeräumt, das Fenster mit den[397] Butzenscheiben im Erker der altdeutschen Speisestube geöffnet, damit belebende Luft hereinströme. An der dunkel getäfelten Decke zuckten die Flammen des Lüstreweibchens. Draußen rauschte die Isar und der Regen ging wie eine Sündflut nieder, klatschte auf die wildwogenden Gebirgswasser und erfüllte die Straße mit grauen Pfützen. Die Abendglocken klangen so verweint, so tieftraurig wie ein gramzerwühltes Chopinsches Nokturno ... Schweigend hatte sich die Familie mit Herrn Biswanger und Pfaffenzeller und den Gästen aus Köln in den Salon zurückgezogen, den eine schwere Draperie von der Speisestube trennte. Bloß der Großvater, jetzt noch eine hohe, rüstige Gestalt im silberweißen Greisenhaar, war in der Stube zurückgeblieben, um in seinem alten Lederstuhl sein gewohntes Dämmerstündchen zu verträumen.

Die schöne, blonde Elsa, die gestern erst ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert, kam aus dem Salon zurück und warf sich dem Großvater weinend an die Brust. Dann beugte sie sich zum Erkerfenster hinaus; ihre Thränen vermischten sich mit den Regentropfen. Isarrauschen und Glockengeläute erfüllten ihre Seele mit Schauder. Sie trat zurück und setzte sich zu[398] Füßen des Großvaters. »O dieses Nachtlied des Wahnsinns! O der unglückliche König!«

Der Großvater holte tief Atem. »Ja, Kind, solche Pfingsten habe ich in meinen sechsundachtzig Jahren nie erlebt. Je älter man wird, desto unglaublicher erscheinen alle Dinge und Verhältnisse. Des Himmels Ratschlüsse sind unerforschlich; dieser Welt Weisheit ist Thorheit vor Gott ... Ich versteh's nicht, ich versteh's nicht ... Gott schütze Bayern, Gott schütze den Prinzregenten ...«

Als Pfaffenzeller den alten Herrn, dessen Tüchtigkeit und Rüstigkeit einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatten, sprechen hörte, ging er leise in die Speisestube zurück. Elsa bot ihm freundlich einen Stuhl neben dem Sitz des Großvaters.

»Wann haben Sie den unglücklichen König zum letztenmal gesehen, Herr Schmerold?«

»Ach, das ist lange her, Herr Pfaffenzeller. Beim Siegeseinzug anno Einundsiebzig, abends bei der Festvorstellung im Hoftheater. Es ist mir noch alles im Gedächtnis. Wallensteins Lager wurde gegeben. Haufenweis war das Volk ins Theater geströmt. Als der junge König mit seiner Mutter und dem deutschen[399] Kronprinzen in der Hofloge erschien, brach alles in Jubel aus und das Orchester spielte die Nationalhymne. Bei jeder patriotischen Stelle des Schillerschen Stückes erschallte brausender Beifall. Als schließlich Kindermann das Reiterlied anstimmte ›Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, in das Feld, in die Freiheit gezogen‹ und dann die Wacht am Rhein gesungen wurde, ging's wie Sturmesbrausen durchs Haus und alles jubelte zur Königsloge hinaus. Der König und der deutsche Kronprinz faßten sich bei der Hand und verneigten sich. Zwei. herrliche, stolze, deutsche Männer ... Und jetzt nimmt unser König ein solches Ende ...«

Dem Greis versagte die Stimme. Dicke Thränen rollten ihm über die Wangen. Elsa schluchzte. Herr Pfaffenzeller konnte sich nicht enthalten, dem alten Herrn die Hand zu küssen. Dann faßte er die Hand des Mädchens mit leisem Drucke. Elsa sah unter Thränen auf und ihr schönes kindliches Auge ruhte eine Weile wie trostsuchend im Auge des jungen Mannes, dessen energische Physiognomie heute einen einnehmenden Zug milder Empfindung zeigte.

Jetzt trat der Konsul herein. »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Pfaffenzeller, gehe ich mit[400] Ihnen auf den Bahnhof.« Und zu seinem Vater gewendet: »Der Architekt Zwerger hat uns nämlich seine Ankunft telegraphiert. In der allgemeinen Verwirrung weiß er vielleicht gar nichts, wohin. Also gehen wir, Herr Pfaffenzeller, es ist Zeit. Der Kufsteiner Zug kommt in einer halben Stunde.«

Lebhafte Bewegung und lautes Gespräch im Salon: der Enkelsohn Franz war mit Raßlers Hermann soeben mit dem letzten Zuge von Starnberg zurückgekehrt. Die Knaben hatten die Unglücksstätte besichtigt, die Leiche des Königs und Guddens im Schloß Berg gesehen und berichteten jetzt in atemloser Hast. Auch ein Bildhauer namens Achthuber sei da gewesen und habe des Königs Totenmaske und einen Abdruck seiner Hand abgenommen. Und viele Landleute und Gebirgler mit Alpensträußen und Kränzen von Edelweiß ... Vom Schmerz über die furchtbaren Geschehnisse und das Geschaute überwältigt, unterbrachen sie ihre verworrene Erzählung und weinten laut auf.

In tiefer Ergriffenheit saßen die Familienmitglieder und ihre Gäste da. Als hätte das Schicksal an die Pforte des eigenen Hauses gepocht, als hätte ein teurer Angehöriger der[401] eigenen Blutsverwandtschaft in Nacht und Grauen geendet, so schauderten die Herzen bei dieser Königstragödie. Nun hatte der Tod diesen weltscheuen, so lange in geheimnisvoller Höhe thronenden König mit einem Schlag zum Gast eines jeden Bürgerhauses gemacht, zum beweinten Liebling eines jeden Herzens. In diesem Allgemeingefühl des innigsten Mitleides, das die guten Menschen verbindet und über die Bedeutungslosigkeit der flachen Werkeltäglichkeit in Stimmungen und Thaten erhebt, versank auch der Schmerz über die eigenen kleinen Leiden und Bekümmernisse.

»Wie geht es bei Euch zu Hause?« fragte die Frau Konsul Schmerold den Hermann Raßler und legte ihre Hand dem Knaben mütterlich treuherzig auf die Schulter.

»Gott sei Dank, Papa ist viel besser und Mama erholt sich wieder. Der Doktor ist recht zufrieden.«

»Vergiß nicht, meinen Wunsch andauernder Besserung Deinen Eltern zu melden und einen schönen Gruß. Ich werde mir nächstens erlauben, die Frau Kommerzienrat zu besuchen.«

Des Knaben verweinte Augen leuchteten dankbar auf. Es war das erste Mal, daß er[402] seine Eltern von der gestrengen Frau Konsul grüßen durfte, und ihr Besuch erst, wie wird der die einsame, traurige Mama freuen!

– – – –

Maximilian Schlichting, kaum notdürftig genesen, verbrannte sein Novellen-Manuskript, verabschiedete sich herzlich von seiner treuen Pflegerin Monika und zog zu Meister Effenbach in das Steinbruch-Blockhaus nach Höllriegelskreut, um in der Einsamkeit und stärkenden Waldluft seine volle Wiederherstellung abzuwarten.

»Und wir sehen uns nie wieder?« fragte das Mädchen, seine Hand in der ihrigen haltend mit leidenschaftlichem Drucke und ihn mit einem Blicke innigster Liebe betrachtend.

»Gewiß sehen wir uns wieder, gute Monika. Ich werde immer an Dich denken. Laß mich nur erst ganz gesund werden und meine Studien vollenden, dann sollst Du sehen, wie dankbar ich sein kann. Inzwischen behalte mich lieb und bleibe brav.«

Schlichting und Effenbach wandelten unter weißblühendem Hollunder an der Isar hin, als ein Fischer von Pullach die Nachricht von der Königskatastrophe brachte.

Magdalena saß auf einem Felsblock am[403] Ufer und sagte Bibelsprüche vor sich hin. »Nun will ich mich aufmachen, sagt der Herr, nun will ich mich erheben, nun will ich hochherkommen. Mit Stroh gehet ihr schwanger, Stoppeln gebäret ihr; Feuer wird euch mit eurem Mute verzehren. Denn die Völker werden zu Asche verbrennet werden, wie man abgehauene Dornung mit Feuer anstecket ...«

»Der König ist tot, Magdalena,« meldete ihr Effenbach tief erschüttert.

Die Irrsinnige blickte zu ihm auf. Sie verstand ihn nicht. Erst nach einigem Sinnen ging es wie ein Glanz halben Verständnisses über ihr Gesicht; dann sprach sie fest: »Der Herr ist König. Ehe denn die Berge worden und die Erde und die Welt geschaffen worden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.«

Schlichting weinte. Die eine Hand auf Effenbachs Arm gelehnt, wies er mit der andern auf die reissenden Schnellen und zischendbrausenden Wasserwirbel des mit starkem und raschem Wellenschlage dahinjagenden Flusses. »Wie trauert doch Hyperions Schicksalslied?


›Es schwinden, es fallen

Die leidenden Menschen

Blindlings von einer[404]

Stunde zur andern,

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jählings ins Ungewisse hinab‹ ...«


Als das trübe Wetter, der Regen und das Hochwasser wieder vergangen waren und das breite Isarthal mit seiner smaragdgrünen Flut und den weißen Kiesbänken und dem dunkelgrünen Saume mächtiger Buchenwälder dalag im Glanze des wundersamsten blauen Sommertages, der weite Himmel wolkenlos in tief schimmernder Leuchtkraft seines reinen Äthers, da wählten Schlichting und Effenbach einen aufragenden Felsblock mitten in der Isar zum Denkstein der gemeinsam verlebten ereignisschweren Tage und meißelten darauf die Worte des griechischen Weisen:


Ράντα ῥεῖ


Alles fließt.

Der wiedergesundete Jüngling kehrte mit frischer Kraft und neuem Vertrauen aus der Einsamkeit des Steinbruchs an der Isar in das brausende Leben zurück.


Ende des Romans.[405]

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 2, Leipzig [o. J.], S. 378-406.
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