[Oh Nacht, oh unendliche, herrliche Nacht]

[150] Oh Nacht, oh unendliche, herrliche Nacht,

Bald wird Dir die Menschheit Genesung verdanken!

Du fügst ja, was stürmisch vom Lichte entfacht,

Ursprünglich, lebendig, auf Erden, erwacht,

Allmächtig, allmählich, in zwingenden Schranken!

Du willst alle Stürme des Tages entladen!

Du suchst Deine Ruhe in ewigen Kreisen!

Du singst Deiner Schönheit unendliche Weisen,

Um stumm Deine stille Vollendung zu preisen!

Es dichtet der Sänger: »Ihr mögt mich zerreißen,

Es siege die seelig erhabene Nacht,

Ich habe den Menschen ein Machtwort gebracht,

Nun sollen es Andere rauschend verheißen:

Schmerzstillende Mutter, am Ende der Schlacht,

Oh Nacht, wiederringsumgestirnte Nacht,

Ich kann Dir allein mein Geheimniß beklagen,

Wer Bacchus ist, Dir, die es ahnen muß, sagen,

Denn Er ist so alt, wie Du selber, oh Nacht:

Und wo Deine Jugend im Urwalde lacht,

Ist Bacchus in Sternen und Blumen erwacht.

Er ist ja die Schönheit und Reinheit der Dinge,

Der Schmelz alles Frischen, die Würde des Alten,

Der Ewigkeit alles durchdringendes Walten:

Oh laß, daß ich Bacchus, erbleichend, besinge![150]

Oh Dionys, Liebe des Mannes und Weibes,

Gynandrische Sehnsucht der beiden Geschlechter,

Enthüllung der Weiche des weiblichen Leibes,

Geschickeverflechter und Freund von Gelächter,

Erfüllung der Reize erblühter Epheben,

Asketenverächter und Traumpalastwächter,

Du Wiedergeburt und Du ewiges Leben,

Oh, lasse mich jetzt durch Dein Seelenreich schweben!

Oh goldener Gott, große Sonnenerscheinung,

Du endliche Streiter und Heldenverneinung,

Du männliche Wärme, Du Erdenentspriessen,

Ich konnte Dich lange als Wandrer gemessen.

Nun schicke den Thau, Deinen himmlischen Regen!

Eröffne die Erde. Ich forsche nach Wegen

Zum Reich des Empfangens und Wonneverlangens:

Es will sich der Wandrer zu Wartenden legen!«


Ende des Intermezzos.
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Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 150-152.
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