Blaukehlchens Doppelsang

[503] Im Friedhof, wo die Weiden schwanken,

Schritt ich mit sinnenden Gedanken. –

Da sang, an eines Grabes Saum,

Blaukehlchen hell von hohem Baum.

Blaukehlchen führt, wie jeder weiß,

Zugleich zwei Stimmen: Laut und Leis –:

Und Hart und Weich und Herb und Lind

Rasch wechselnd ihm zu eigen sind:

Du schaust Ein Vöglein auf dem Ast,

Daß zweie sängen, schwörst du fast. –

Des gleichen Wunders wieder heute

Ich mich im grünen Friedhof freute:

Denn, wechselnd, aus den Weidenzweigen,

Stolz fächernd breiten Schweif mit Neigen,

Zweistimmig sang das Vöglein dort

An deinem Grab, Schalk Wunnebrord,

Den, widers Blut, noch ungeboren,

Gelübde hat zum Mönch geschoren:

Die Mutter schwor's: – so ward's der Sohn.

Die Kirche trug kein Heil davon!

Er, Kellrer in dem Kloster Fuld,

Trug mehr dem Faß als Fasten Huld,

Und unterwies er uns, die Jungen,

Sang er in zwei verschiednen Zungen:

»Vom Übel ist der firne Wein!«

– (Doch trank ich nie genug noch sein!) –

Das Alter nur hat weise Tugend,

– (Doch wahre Lust hat nur die Jugend!) –

Man soll nur singen Mess' und Psalter,

– (Ein Taglied tönt viel süßer, Walther!) –

Zur Hölle führet Weiberkuß,

– (Ein Tropf, wer sein entraten muß!) –[504]

Dem Feind verzeihn, ist Christenpflicht,

– (Heil, wer ihm sieben Rippen bricht!) –

Wer trinkt, brennt einst im Schwefelloch,

– (Doch brennt der Durst viel heißer noch!)

Heil, wer da stirbt in frommem Beten,

(Doch sel'ger unter Kriegsdrommeten!) –

Jungfrau Maria preis' ich sehr,

– (Jedoch Frau Minne noch viel mehr!«)

Zweisprachig so sang Wunnebrord:

Nun, friedlich schweigend, schläft er dort,

Wo über ihm Blaukehlchen singt

Und seinen Zwiespalt weiter klingt.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 503-505.
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