Der Kranich

[491] Hier, wo die letzten, lichten jungen Erlen

Auf Vorwacht stehn des Walds von Kloster Zell,

Am braunen Moosquell, drin die raschen Schmerlen

Wie dunkle Schatten fliehn und hüpfen schnell,[491]

Wo tief im breiten Tal mit Silberperlen

Der gelbe Main manchmal emporblitzt hell

In stolz geschwungnem, leisem, sanftem Gleiten, –

Hier ruh' ich oft, gedenkend andrer Zeiten.


Der Frost hat schon der Buchen Laub und Eichen

Goldrot gefärbt: es lasten voll gereift

Die Trauben dort am »Stein«, dem rebenreichen:

Der Wildschwan singend durch die Nächte streift,

Doch hier im Abenddämmer seh' ich streichen

Den Kranich, der die Wanderstrophe pfeift:

Er zieht gen Süden über Meer und Eiland:

Jerusalem – dich sucht er und den Heiland. –


Da steigt ein Bild mir auf blickferner Länder:

Auch dort ein Strom, der zögernd gleitend rinnt

Am Fuße gelb gebrannter Hügelränder.

Drei Palmen nicken dort im Abendwind:

Horch, Rossewiehern – flatternde Gewänder –

Und Allahruf: – der Wüste rasch Gesind'

Umtobt uns rings – es schwirrt von Pfeil und Speeren –

Da stürzt mein Hengst – jetzt gilt's, dem Tode wehren –!


Schon birst mein Helm vor'm Damaszener Schwerte,

Den langen Kreuzschild spaltet mir ein Beil –

Da springt Er bei, mein edler Sturmgefährte,

Er selbst, sein Leib mein Schild: – da zischt ein Pfeil

Ins Herz ihm, in das todestreu bewährte!

O Kranich, hemme dort des Fluges Eil',

Wo um den Wüstenbronn drei Palmen ragen,

Und sag' ihm: ewig werd' ich um ihn klagen.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 491-492.
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