1.

[550] Mein Volk, ja du hast dir in jeglicher Kunst,

In jeglichem Wissen errungen den Preis:

Es gönnte die Palme der Himmlischen Gunst

Der innigen Kraft und dem dauernden Fleiß:

Du hast an dem Himmel die Sterne gezählet,

Hast tief in den Gründen durchforschet den Schacht,

Hast Steine zu atmendem Leben beseelet,

Hast Lieder von ewiger Schönheit erdacht,

Du hast dir die Pforten des Geistes entriegelt,

Die heiligsten Rollen des Ahnens entsiegelt: –

Leg alles dahin, sei zu anderm bereit,

Nach Eisen verlanget die eiserne Zeit:

Zu den Waffen, mein Volk!


Es hat die Olive kein Haupt noch geschützt,

Dem ruchlos das Schwert sich des Feindes genaht:

Hat Hellas die Liebe der Musen genützt,

Als Rom mit dem Fuß auf den Nacken ihm trat?

Vorüber die Tage für friedliches Trachten,

Für Denken und Dichten vorüber die Zeit:

Jetzt sollst du dich gürten zu brüllenden Schlachten,

Für Freiheit und Leben zum grimmigen Streit:[550]

Fort Becher und Liebe, du freudige Jugend,

Jetzt ist der Haß die oberste Tugend:

Ihr führtet den Griffel, den Meißel genug,

Legt nieder die Feder, den Hammer, den Pflug:

Zu den Waffen, mein Volk!


Schon gilt es nicht mehr für den Ruhm und die Macht,

Zerfetzt ist schon lange dein Ehrengewand:

Die Sterne, die ewigen, hieltst du in acht,

Da stahlen dir Schächer dein Gut und dein Land:

Sie haben zu lange den Speer nicht gekostet,

Der dem Slawen den Schild und Romanen zerspellt:

Sie glauben das Schwert in die Scheide gerostet,

Das blitzend die Kaiser geschwenkt durch die Welt:

Sie wähnen dich alt, und sie wollen dich erben,

Sie wollen dich würgen, dieweil du im Sterben:

Auf, schütze dein Leben, dein Gut und dein Recht,

Zu den Waffen, du reisiges Heldengeschlecht:

Zu den Waffen, mein Volk!

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 550-551.
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