Sechstes Kapitel.

[78] Das erste, was ich tat, als sich solche Befürchtungen wie die letzteren bei mir einstellten, war denn auch, daß ich zunächst einmal jede Spur von mir zu verwischen suchte und einen anderen Namen annahm. Ich begab mich in ein Viertel, in dem Leute wohnten, denen das Leben nicht wohl getan, verfehlte Existenzen, Bankrotteure und dergleichen, mietete mich dort ganz im Verborgenen ein, kleidete mich wie eine Witwe und nannte mich Flanders, Moll Flanders.

So war ich geborgen; und obgleich meine neuen Bekannten gar nichts von mir wußten, hatte ich bald wieder eine große Gesellschaft um mich gesammelt; sei es nun, daß Frauen unter den Leuten, die dort wohnen, überhaupt seltener, oder daß Tröstungen, wie sie von Frauen wohl kommen können, hier gesuchter und nötiger sind – jedenfalls merkte ich bald heraus, daß eine hübsche Frau sich bei den Söhnen der Not einer ganz außerordentlichen Wertschätzung erfreut; und daß manche Männer, in deren Tasche auf ein Pfund Schulden[79] kein halber Schilling kam und die ihre Mittagessenrechnung nicht zahlen konnten, immer noch das Geld zu einem Abendessen mit der Frau fanden, die ihnen gefiel.

Ich hielt mich von dem ganzen Treiben übrigens ziemlich fern; und trotzdem kam ich in den Ruf einer leichtfertigen Person, ohne etwas von den Freuden einer solchen zu haben. Es gefiel mir infolgedessen schon bald nicht mehr, wo ich war, die Gesellschaft gefiel mir am allerwenigsten, und so dachte ich denn eifrig darüber nach, wie ich wieder fortkommen könne.

Es machte mir einen zu unheimlichen Eindruck, zu sehen, wie Männer in den bedrängtesten Verhältnissen, die geschäftlich vollständig ruiniert waren und deren Familien den Schreck und das Mitleid anderer Leute erregten, wie die, so lange nur noch ein Pence in ihrer Tasche oder auch wenn keiner mehr darin war, nichts taten, als ihren Kummer in Leichtsinn zu ertrinken ... zu sehen, wie sie ruhig weiter Schulden machten, wo es nur eben anging ... wie sie sich bemühten, ihre früheren besseren Tage, an die sie sich hätten erinnern sollen, zu vergessen, und so nur neuen Stoff zu neuer Reue, die ja doch immer wieder kam, herbeischafften und weiter sündigten, als sei dies ruchlose Leben in den Tag hinein ein Heilmittel gegen die Sünden der Vergangenheit.

Ich bin nicht berufen, Sitten zu predigen, aber diese Männer waren selbst mir zu verdorben. In ihren Lastern lag etwas Abscheu erregendes, denn sie sündigten nicht nur gegen ihr Gewissen, sondern auch gegen die Natur, und es war nichts leichter, als vorauszusehen, daß bald Jammern ihre wüste Scheinfreude übertönen und die Blässe der Todesangst statt des gezwungenen Lächelns auf ihren Angesichtern liegen werde; ja oftmals brach schon jetzt die Verzweiflung bei ihnen hervor, wenn sie wieder einmal ihr Geld verspielt, vertrunken oder für eine sündhafte Umarmung dahingegeben hatten. Ich hörte sie dann wohl stöhnen, seufzen, ja, mitunter laut aufheulen: »was für ein Hund bin ich! Meine[80] arme liebe Anni oder Mary, ich bin deiner nicht mehr wert!« Damit meinten sie dann ihr ehrliches Weib, das vielleicht für sich und ihre drei oder vier Kinder kein Stückchen Geld zum Lebensunterhalt besaß. Bis zum folgenden Morgen hielt die Bußestimmung wohl auch an. Und dann kam vielleicht dieses arme weinende Weib, um dem Gatten Nachricht zu bringen, was für neue Maßnahmen die Gläubiger ergriffen, die sie und ihre Kinder heute vor die Türe gesetzt hätten; oder sie übermittelte irgend eine andere schreckliche Botschaft; und dies bestärkte den Mann dann nur noch in seinen Selbstvorwürfen. Doch wenn er darauf den ganzen Tag in stumpfsinniger Verzweiflung über seine Lage nachgedacht und ganz zwecklos gegrübelt hatte, aber dabei, da er ja keine Grundsätze besaß, an denen er sich aufrichten konnte, weder Trost in sich noch über sich gewonnen und ihn von allen Seiten nur aussichtsleere Nacht umgab, dann stürzte er sich wieder in die gleiche brodelnde Untiefe des Vergessenwollens und suchte seinen Jammer beim Becherklang und in den wüstesten Ausschweifungen zu übertäuben. Der Unselige traf ja nur Menschen, die in derselben Lage waren wie er selbst; und er erneute beständig all seine Vergehen, und ging so jeden Tag einen Schritt weiter auf dem Wege, der schließlich zu irgend einem gräßlichen und meist gewaltsamen Ende hinführen mußte.

Ich war jedoch für solche Menschen nicht schlimm genug; ich begann im Gegenteil ernsthaft darüber nachzudenken, wie die Verhältnisse um mich standen und was ich zu tun habe, um aus ihnen herauszukommen. Ich wußte, ich hatte keine Freunde, nicht einen Bekannten noch Verwandten mehr in der Welt; mein weniges an Eigentum wäre bald in alle Winde verstreut gewesen, und war es erst dahin gekommen, so sah ich nichts als Hunger und Elend vor mir. Solche Betrachtungen erfüllten mich mit Entsetzen vor dem Orte, an dem ich lebte, und ich beschloß, ihn unter allen Umständen zu verlassen.

Ich hatte eine ehrenhafte junge Frau kennen[81] gelernt, die wie ich Witwe war; doch befand sie sich in besseren Verhältnissen, als ich. Ihr Gatte, ein Schiffskapitän, hatte das Unglück gehabt, bei einer Heimkehr aus West-Indien zu scheitern. Zwar rettete er sein Leben, der große Verlust jedoch, den er erlitten, brach ihm das Herz; er starb bald darauf, und seine Witwe wurde nun von den Gläubigern hart bedrängt und sah sich gezwungen, in meinem Viertel ein Unterkommen zu suchen. Mit der Hilfe von Freunden verbesserte sich ihre Lage bald wieder ein wenig, und sie konnte sich freier bewegen; und da sie wohl merkte, daß mich nur mein eigener Wille und nicht irgend welche Verfolgungen in das Viertel gebracht, und auch fand, daß ich mit ihr, oder vielmehr sie mit mir in dem großen Abscheu vor unserem Aufenthalt und der Gesellschaft dort übereinstimmten, lud sie mich ein, mit ihr in ein anderes besseres Viertel zu ziehen, bis sich irgendwo eine Stellung nach meinem Geschmack finden würde; sie meinte auch noch, man könne wohl zehn zu eins wetten, daß irgend ein tüchtiger Schiffskapitän, aus dem Teil der Stadt, in dem sie wohnen werde, eine Neigung zu mir fassen und um meine Hand anhalten werde.

Quelle:
Daniel De Foe: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders. Berlin [1903]., S. 78-82.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders
Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders
Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders
Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders
Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders
Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders, die im Zuchthaus geboren wurde, zwölf Jahre Dirne, acht Jahre deportierte Verbrecherin in Virginien war, schließlich ehrbar lebte und reuig starb .