Gebet der Sucht

[202] Niemals sah ich die Nacht beglänzter,

diamantisch reizen die Fernen;

durch mein staubiges Kellerfenster

sticht der Schein der Gaslaternen,


schielt auf meine frierenden Hände,

und ich fühle meinen Hunger;

grau sind diese nackten Wände,

und sie flimmern. Und mein junger


irrender Wille kann sich nicht mehr täuschen

unsre Lüste wollen fruchtbar sein!

Mit den Schatten meiner keuschen

Kammer spielt ein schwüler Schein.
[202]

An den hohen Häusern drüben glühen

aus der Finsternis die Fenster,

wo die Freudenmädchen blühen –

niemals sah ich die Nacht beglänzter!


Und die Sterne sind wie brennende Blicke,

Welten sehnen sich nach mir!

Ich verschmachte. Ich ersticke.

Ja: ich frevelte an Ihr!


Selbst in meiner kalten Zelle

fühlte ich das Leben toben,

der ich wagte, dieses schnelle

Herz zu dämpfen; aber oben


über meinem dunklen Thale,

Venus, seh ich angebrannt

Deine flammenden Fanale,

und den Blick hinaufgewandt


ruf'ich aus dem tiefen Turme

meiner Aengste zu dir hoch:

Göttin, wandle dich zum Wurme,

sei im Wurme Göttin noch!


Sausend schaukelt eine Not mein Herz

wie in erster süßer Knabenfrühe;

ich verschmachte! ich verglühe!

jeder Stern ist mir ein Schmerz, –


ihrer Strahlen ferne starre Ruten

martern, wenn du mich nicht kühlst,

wenn nicht Du mit deinem brünstigen Blute

meine brennenden Dürste stillst!
[203]

Sieh, es lichtet sich ein neues Fenster,

zuckt ein steiler Kerzenstreifen –

niemals sah ich die Nacht beglänzter!

Ja: entzünde dich dem Reifen,


Ewige, lächle: Deine Kerzen bleiben,

alle andern sind verblichen!

Hinter jenen schwarzen Scheiben

schlafen alle Ordentlichen ...

Quelle:
Richard Dehmel: Aber die Liebe. München 1893, S. 202-204.
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