Venus Mors

[228] Eine rote Feuerlilie schreitet

riesig durch die Weltennacht.

Von der Sonne bis zum Sirius breitet

sich ihr Scharlachkelch. Der Schacht

des gezähnten Schlundes kocht von Gluten,

düster flammt des Rachens Zackenfirne;

um die wirbelnden Gestirne

schlingt sie hungrig ihre Samenruten.


Gelb aufzüngelnd schlürft sie die getrennten

Welten gierig in den wilden Schooß,

aus den schwarzen Firmamenten

ringen Sonne, Sirius sich los;[228]

lodernd sehn sie die Unendlichkeiten

ihrer alten Sehnsucht überbrückt,

aus den Angeln wanken sie verzückt,

zu einander stürzen die befreiten.


Taumelnd folgen, brodeln, glühen

ringsum die Trabantenlüfte;

aus der brennenden Lilie sprühen

Lavastürme durch die Himmelsgrüfte.

Auf der Erde ras't ihr Licht als Mord,

sengend frißt es Wälder, Ströme, Quellen,

Asche trieft aus blendenden Wolkenhöllen,

alle Kreatur verdorrt.


Nur ein Brautpaar will noch fühlend enden,

keuchend, schon erblindet beide;

mit den heißen Liebeshänden

nestelt er an ihrem Kleide.

Aber in der Nacht der Seele

wird der grelle Durst zur Wut;

wühlend wittert er ihr Blut,

beißt er, schlürft er sich in ihre Kehle.


Alles saugt der große Flammenschlund,

kreisend will er überschäumen,

rissig klafft der zuckende Muttermund,

Dämpfe bersten, Feuerpollen säumen

den zerfetzten Riesenblütenrand,

eine neue Welt entrollt der toten,

strahlend quillt sie aus dem morgenroten

furchtbar'n Siriusliebestodesbrand.

Quelle:
Richard Dehmel: Aber die Liebe. München 1893, S. 228-229.
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