Venus Vita

[227] Und einen Feldweg, und um Morgengrauen,

die kahlen Bäume stehen da wie tot,

ich aber wandre, ohne aufzuschauen.

Ich fühle eine Furcht; und Regen droht.

Ich höre den gedüngten Acker schweigen;

und heute wird kein Morgenrot.

Die Straße teilt sich. In den schwarzen Zweigen

sagt keine Tafel mir die rechte Spur:

soll ich hinunter, soll ich steigen.

Da däucht mir, in der tiefen Flur

rief mich mein Name; aus ersticktem Munde.

Ich horche; Nichts. Im Osten nur

enttaucht ein Licht dem fernen blassen Grunde.

Es ist kein Stern, es schimmert warm und traut,

mir dämmert eine längst vergangne Stunde,

und wieder hor'ich fern und laut

die bange Stimme meinen Namen rufen;

und mir graut.

Mir scheinen plötzlich diese Ackerhufen

bekannt; ich bin so wandermatt;

und dieser Pfad, und diese Wurzelstufen?

hinab! – Schon wird der Abhang glatt;[227]

auf Einmal, wie von einem Kinderwagen,

springt mir ein Rad

unter den Füßen auf. Ich seh es jagen,

es springt und rollt den Kiesweg vor mir her,

seh's Funken schlagen;

mein Schreck, mein Zittern wird Begehr,

ich muß ihm nach, es haben! bis zur Kehle

hämmert mein Herz, das Rad rennt immer mehr,

und immer ruft mich klagend jene Seele

und winkt das Licht,

das Rad – Ich – jetzt: ich greife, fehle,

es ist ein Lichtrad! halt! nach, eh's zerbricht!

ich fass'es, stürze – wach'ich? meine matten

Finger umklammern es, – nein – nicht:

in meiner Hand zerrann es wie ein Schatten ...

Quelle:
Richard Dehmel: Aber die Liebe. München 1893, S. 227-228.
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