Blick in das All

[136] Wir haben uns gesucht und nicht gefunden:

wir sahen Götter, weil wir wollten sehn!

Wir hatten uns durch eigne Kraft gebunden,

daß wir die eigne Kraft nicht fühlten weh'n.

Der Geist war leiblos aus dem All geschwunden:

er sollte göttlich über Allem stehn.

Wir wollten nur am Wesen uns begeistern,

und konnten dennoch nicht die Form bemeistern.


Und machtlos fühlte sich auf seiner Höhe

der Menschengeist, der Göttergeist sich gab,

daß er aus Sich den Geist des Alls verstehe:

sein Hoheitswahn ward seiner Hoheit Grab.

Es zwang ihn nieder ein gewaltig Wehe,

verzweifelnd wies zum Staub er sich hinab;

zum Wesen ward der Dinge Schein gewirre,

und Wahrheit schien ihm, daß er ewig irre.


Doch aus der Selbstbezähmung umgeboren

zu neuem Geiste fand er neue Kraft;

und was er an erhabnem Wahn verloren,

gewann als Streben neue Wesenschaft.[136]

Zu neuen Höhen sah er sich erkoren,

denn Demut hob ihn aus der Schwachheit Haft:

der Geist im Leib vom Geist ins All verbunden,

so hat im All der Geist sich erst gefunden.


Er sah, wie in der endlos großen Kette

der Formen endlos groß ein Sehnen wohnt,

sich selbst zu heben in der Wesenwette,

in der die Form der Drang der Form entthront.

Und aus dem Drange sprach's: Natur – sie hätte

ein Streben, das sich endlich nicht belohnt?

der Menschheit Ringen um die Allenthüllung,

es bürgt auch für des Ringens Vollerfüllung!


Ein Wahn ist's, daß den Endlichkeitsgestalten

verschlossen ewig sei das Rätselbuch

der Allkraft, deren Pulse in uns walten!

ein Wahn, daß uns die Lösung nur ein Fluch,

daß unsrer Geistesmächte voll Entfalten

der Formwelt drohe den Zusammenbruch!

Kann sich im Stoffe gleich die Kraft erkennen,

kann sich vom Stoffe doch die Kraft nicht trennen.


Und ist es Uns noch nicht vergönnt, zu schauen

des Körper-Seelen-Wechsels Werdefleiß,

ist Uns noch unverstanden, was wir bauen,

ist Uns die Mühe noch der Mühe Preis:

so kann uns doch nicht vor dem Zweifel grauen,

ob nicht für solchen Lohn die Qual zu heiß!

wir sind ein Stück der Immerkraft: wir wissen,

daß wir nicht wollen – daß wir schaffen müssen!

Quelle:
Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 136-137.
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