34.

[227] Doch die Stunde des Scheidens naht und naht,

wie wenn die Zukunft eilender rollte.

Und sie gehn noch Einmal den steinigen Pfad,

wo das Werk ihres Geistes wachsen sollte.

Und inmitten der kahlen, vereisten Flächen

muß das Weib einen alten Zweifel aussprechen:


Wenn ich spüre, wie's wächst, mein Fleisch und Blut,

und still neuen Sinn ins Dasein tut,

als fasse der Mensch das Göttliche nur

kraft seiner tierischen Natur,

als hülle, was wir lehren, nur Handlungen,

die wir im Grunde nicht verstehen,[228]

und was wir reden, nur Verwandlungen,

die währenddem mit uns geschehen –

dann frag'ich mich: blickt nicht der blödeste Tor

gottvoller noch als wir zu Gott empor?


Und schauernd sinnt sie nach: zu Gott –

Da sagt der Mann mit mildem Spott:


Zu welchem? Zu dem biblischen Erdaufseher?

Ja, Dem tat's not, Weltweisheit zu verbieten;

die Hunde meines Vaters sind ihm näher

als alle Priester und Leviten.

Wir aber, wir Menschen der wachsenden Einsicht, kennen

ihn anders, den Gott in unsrer Brust,

dank jenem Geist allrühriger Liebeslust,

den ich nicht wage »Gott« zu nennen:

Gott ist ein Geist, der klar zu Ende tut,

was er zu Anfang nicht gedacht hat –

dann sieht er Alles an, was Ihn gemacht hat,

und siehe da: es ist sehr gut! –

Und beugst du dann vor ihm das Knie

und weihst ihm willig deinen Menschenschmerz,

dann spricht der heilige Geist des Fleisches: sieh,

so spielt Gott mit sich selbst, o Herz!


Und kindlich lächelnd, göttlich klar,

schweigt Herz an Herz ein Geisterpaar.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 227-229.
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