Neunundzwanzigstes Kapitel

[209] Handelt von den Bewohnern des Hauses.


In einem mehr altmodisch bequemen als modern eleganten Zimmer saßen zwei Damen an einem gedeckten Frühstückstisch. Mr. Giles, von Kopf bis zu Fuß in feierliches Schwarz gekleidet, bediente sie. Er stand aufrecht zwischen dem Servier- und dem Frühstückstisch, das Haupt stolz zurückgeworfen, den linken Fuß vorgestellt und die rechte Hand im Busen, während er mit der linken den Präsentierteller[209] hielt – kurz, wie ein Mann, der sich seiner Wichtigkeit und seiner Verdienste wohl bewußt ist.

Die eine der beiden Damen war hochbetagt, aber selbst der steiflehnige Eichensessel, in dem sie saß, konnte keine korrektere Haltung zeigen als sie. Sorgfältig gekleidet, wenn auch altmodisch, machte sie einen stattlichen und würdigen Eindruck, wie sie so, die Hände gefaltet, sich auf den Tisch stützte. Ihre Augen, vom Alter noch nicht getrübt, hingen aufmerksam an ihrer jugendlichen Gefährtin.

Die andre und wesentlich jüngere Dame stand in der vollen Blüte des Lebens, in jenem Alter, von dem man sagen kann, ohne sich einer Gotteslästerung schuldig zu machen, daß Engel in einer Gestalt wohnen müssen, wie sie diesem jungen Mädchen eigen war.

Kaum siebzehn Jahre alt, zierlich, mild und wahr, sah sie so schön aus, daß sie kaum mehr etwas irdisches an sich hatte. Der Geist, der in ihren blauen Augen schimmerte, paßte weder zu ihrem Alter, noch zu dieser Welt, und das Lächeln in ihren Zügen war so recht für häusliches Glück und Frieden geschaffen. Emsig mit den kleinen Obliegenheiten beschäftigt, die die Bedienung an der Tafel erforderte, erhob sie jetzt die Augen, um die alte Dame anzusehen, die den Blick nicht von ihr wandte.

»Brittles ist wohl schon eine Stunde weg, nicht wahr?« sagte die alte Dame nach einer Pause.

»Seit einer Stunde und zwölf Minuten, Madame,« antwortete Mr. Giles und warf einen Blick auf die silberne Taschenuhr, die er an einem schwarzen Bande aus seiner Weste hervorzog.

»Er ist immer sehr langsam,« bemerkte die alte Dame.

»Brittles wars von jeher, Madame,« erwiderte der Diener.

»Ich glaube, statt sich zu bessern, wird es mit ihm von Tag zu Tag schlechter,« sagte die alte Dame.

Die jüngere lächelte freundlich.

Mr. Giles überlegte offenbar, ob er mitlächeln sollte oder nicht, da fuhr eine Droschke am Gartentor vor, ein alter Herr sprang heraus, stürmte die Treppe herauf, ins Zimmer herein und rannte Mr. Giles mit samt seinem Serviertisch beinahe über den Haufen.[210]

»So etwas ist mir noch nicht vorgekommen!« rief der alte Herr. »Oh, meine liebe Mrs. Maylie, Gott steh uns bei – und mitten in der Stille der Nacht – so etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen!«

Und mit dem Ausdruck lebhaftesten Beileids schüttelte der alte Herr beiden Damen die Hand, rückte einen Stuhl heran und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

»Sie hätten den Tod davon haben können vor Schrecken – wahrhaftig ja,« sagte er. »Warum haben Sie denn nicht zu mir geschickt? Gott steh uns bei! Mein Diener hätte doch in einer Minute hier sein können und wäre es auch gewesen. Nein! Gott! So ganz unerwartet, so ganz unverhofft und noch dazu mitten in der Nacht. In der Stille der Nacht!«

Besonders der Umstand, daß der Einbruch so ganz unerwartet und noch dazu in der Nacht stattgefunden habe, schien den Doktor außer sich zu bringen, – wie wenn es überhaupt möglich gewesen wäre und üblich, daß Einbrecher ihre Ankunft ein paar Tage vorher durch die Post höflich mitzuteilen pflegten.

»Und Sie, Miß Rose,« wandte sich der Doktor an die junge Dame, »– ich – ich – ich –«

»Mir fehlt gar nichts,« fiel ihm Miß Rose in die Rede. »Aber oben im Zimmer bei Mr. Giles liegt ein armer Mensch, krank und verwundet, und die Tante wünscht, Sie möchten sich seiner annehmen.«

»Ganz recht, ganz recht,« versetzte der Doktor. »Sehr richtig. Das war ein Meisterstück von Ihnen, Mr. Giles.«

Mr. Giles hatte in fieberhafter Erregung die Teetassen bereit gestellt, wurde rot bis über die Ohren und sagte, allerdings habe er die große Ehre gehabt.

»Ehre?!« widerholte der Doktor erstaunt. »Ich weiß nicht, was ehrenhafter ist: einen Einbrecher aus dem Hinterhalt anzuschießen oder seinen Mann auf zwölf Schritte zu treffen. Nehmen Sie vielleicht an, er habe in die Luft geschossen wie bei einem Duell, Mr. Giles?«

Mr. Giles faßte diese Worte als einen höchst ungerechtfertigten Versuch auf, ihm seinen Ruhm zu schmälern,[211] und erwiderte daher unter voller Wahrung des Respektes, es schicke sich für Seinesgleichen zwar nicht, über derlei zu urteilen, jedoch sei er der Meinung, daß schlechte Witze wohl hier kaum am Platze sein dürften.

»Sapperlot! Da haben Sie recht,« sagte der Doktor. »Übrigens, wo steckt denn der Bursche? Führen Sie mich mal in das Zimmer. Ich spreche dann wieder vor, Mrs. Maylie, wenn ich herunterkomme. So, so, das also ist das kleine Fenster, zu dem er hereingekrochen ist, was? Mein Lebtag hätte ich das nicht für möglich gehalten!«

Die Treppe hinauf, immerwährend vor sich hinschwatzend, folgte er Mr. Giles, und wie er so emporklomm, sah er so recht aus wie ein wunderlicher alter Junggeselle, der infolge seines frohen Sinnes und guter Lebensweise dick und fett geworden war.

Er blieb weit länger weg, als er selbst gedacht oder die beiden Damen angenommen hatten. Ein großer flacher Kasten wurde aus der Droschke herausgeholt und die Klingel der Schlafstube sehr oft in Bewegung gesetzt. Immerwährend lief die Dienerschaft auf und ab, und aus alledem durfte man mit Recht schließen, daß etwas ungemein Wichtiges im Gange sein mußte. Endlich kehrte der Arzt in das Speisezimmer zurück und machte, von den Damen befragt, eine sehr geheimnisvolle Miene, worauf er die Türe schloß.

»Es ist ein sehr bedenklicher, ja sogar ein ungewöhnlicher Fall, Mrs. Maylie,« berichtete er, den Rücken an die Türe gelehnt, als wolle er sorgsam verhüten, daß jemand Unberufener einträte.

»Er schwebt doch nicht in Lebensgefahr?« fragte die alte Dame.

»Nun, das allein würde die ungewöhnliche Natur des Falles nicht umschreiben,« versetzte der Doktor. »Ich bin sogar der Meinung, daß Lebensgefahr zurzeit nicht besteht. Haben Sie den Einbrecher gesehen?«

»Nein.«

»Auch nichts über ihn gehört?«

»Nein.«

»Entschuldigen Sie, Madame,« schnitt Mr. Giles das Zwiegespräch der beiden ab, »aber ich wollte Ihnen[212] gerade einen Vortrag über den Räuber halten, als Doktor Losberne eintrat.«

Mr. Giles war sich von Anfang an nicht so recht bewußt gewesen, daß er im grunde genommen ja nur einen Knaben angeschossen hatte. Aber er konnte es sich immerhin nicht versagen, seine bewiesene Tapferkeit wenigstens noch ein paar köstliche Minuten hindurch ins rechte Licht zu setzen.

»Rose sollte sich ihn ansehen,« sagte Mrs. Maylie, »aber ich wollte nichts davon hören.«

»Hm,« hüstelte der Doktor. »Seine Erscheinung ist nicht gerade fürchterlich oder Angst erregend. Hätten Sie etwas dagegen, ihn sich in meiner Gegenwart anzusehen?«

»Wenn Sie es für nötig halten,« antwortete die alte Dame. »Ich bin bereit.«

»Gut,« sagte der Doktor. »Er ist jetzt vollkommen ruhig und zufrieden. Gestatten Sie, Miß Rose, – daß ich so frei bin, – bitte, es liegt keine Ursache auch nur zur leisesten Befürchtung vor – meine Ehre zum Pfand.«

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 209-213.
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