Siebenundvierzigstes Kapitel

[347] Verhängnisvolle Folgen.


Ein paar Stunden vor Tagesanbruch, – zu jener Zeit, wo es im Herbste finsterste Nacht zu sein scheint, wo sogar die Geräusche schlummern und die Straßen schweigsam und verödet daliegen und die Schlemmer und Schwelger nach Hause getaumelt sind, um zu träumen, – da saß Fagin noch wachend in seiner Höhle, und sein Gesicht war so bleich und verzerrt, daß er mit seinen roten blutunterlaufenen Augen weniger einem Menschen als einem scheußlichen Gespenste glich.

In eine zerlumpte Decke gehüllt, kauerte er an dem erkalteten Herd und starrte in eine mit dem Erlöschen kämpfende Talgkerze, die auf dem Tische vor ihm stand. Geistesabwesend kaute er an seinen langen Schwarzen Fingernägeln, wobei in dem sonst zahnlosen Mund einige Zähne sichtbar wurden, die geradeso gut einem Hund oder einer Ratte hätten gehören können.

Am Boden ausgestreckt auf einer Matratze lag Noah Claypole, fest schlafend.

Regungslos und ohne auch nur ein einziges Mal seine Stellung zu verändern, saß der Jude da und wartete, sich ganz seinen rastlos arbeitenden Gedanken überlassend, bis endlich das Geräusch von Schritten auf der Straße ihn aus seinem Grübeln erweckte.

»Endlich,« murmelte er und fuhr sich mit der Hand über die fieberheißen Lippen, »endlich.«

Als die Glocke leise ertönte, ging er hinaus und kehrte bald darauf mit einem Mann zurück, der bis ans Kinn verhüllt war und ein Bündel unterm Arm trug: es war Sikes.

»Da,« sagte der Einbrecher und warf das Bündel auf den Tisch. »Machs zu Geld, so gut du kannst. Mühe genug hat's gekostet: ich hätte schon vor drei Stunden hier sein sollen.«

Fagin verschloß das Bündel in einem Schrank, setzte sich wieder nieder und blickte Sikes starr an, wobei[347] seine Lippen so heftig zuckten, daß der Verbrecher unwillkürlich ganz bestürzt wurde.

»Was gibt's denn?« fuhr Sikes auf. »Teufel nochmal, warum sehen Sie mich so an?«

Der Jude erhob die Hand und bewegte den Zeigefinger hin und her, war aber so erregt, daß er keine Worte finden konnte.

»Himmel und Teufel,« schrie Sikes und griff nach seiner Brusttasche. »Er ist verrückt geworden. Mir scheint, er will mir an den Hals.«

»Nein, nein,« murmelte Fagin atemlos, »das ist's nicht – Sie sind's nicht, Bill –, mit Ihnen bin ich zu frieden.«

»So so, sind Sie das!« höhnte Sikes mit einem grimmigen Blick und schob in nicht mißzuverstehender Weise seine Pistole in die rechte Seitentasche. »Ein Glück ist's – für einen von uns beiden. Wer der ist, darauf kommt's hier nicht an.«

»J'ach muß Ihnen was erzählen, Billleben,« fing Fagin endlich an und rückte näher zu Sikes. »Es wird Ihnen dabei so mies zumut werden, wie mir schon ist.«

»So, glauben Sie,« versetzte der Räuber trocken. »Also los. Aber schnell, gefälligst, sonst wird Nancy denken, sie hätten mich schon am Kragen.«

»Am Kragen,« wiederholte Fagin. »Glauben Sie, daß sie sich was draus machen würde?«

Sikes sah ihn betroffen an. Dann packte er den Juden mit seiner riesigen Faust und schüttelte ihn hin und her. »Raus mit der Sprache,« schrie er, »sonst schüttle ich Ihnen den Atem aus der Brust. Maul aufgemacht und gesagt, was los ist! Raus mit der Sprache.«

»Nehmen Se an, der Bursch, der dorten liegt,« fing Fagin an, – Sikes drehte sich um und warf einen Blick auf Noah Claypole; »nun?« fragte er, den Juden wieder fest ins Auge fassend. »Nemmen Se an, der Bursch dort,« fuhr Fagin fort, »hätte sich zuerscht emol die richtigen Leinte ausgesucht, um uns zu verpetzen, und sich dann mit ihnen gegeben ä Zusammenkunft auf der Stroßen, um ihnen alles zu verraten. Nemmen Se an, er hätt' alles das getan aus freien Sticken, und[348] ohne daß ihm das Messer am Hals gesessen wär; was glauben Sie, mißt mit ihm geschehen?«

»Was?« versetzte Sikes und stieß einen entsetzlichen Fluch aus. »Wenn ich ihn lebend in die Händ' bekommen hätte, würd' ich ihm den Schädel mit den Stiefelabsätzen zertreten.«

»Und was, wenn ich so was getan hätt'?« schrie der Jude gellend. »Ich weiß doch wahrhaftig genug, ich könnt' so manchen an den Galgen bringen.«

»Ich weiß nicht, was ich täte,« brummte Sikes und biß die Zähne zusammen und wurde bei dem bloßen Gedanken weiß wie die Wand. »Wenn ich mit dir zusammen verhört würde und wüßte das, selbst dann im Gerichtshof schlüg' ich dir vor allen Leuten das Gehirn aus dem Schädel.«

»Das täten Sie?«

»Jawohl, das tät' ich,« sagte der Einbrecher. »Glauben Sie's vielleicht nicht?«

»Und wenn's Charley wär', oder der Baldowerer, oder Betsey, oder –«

»Mir wurscht, wer's ist oder wer's wäre,« versetzte Sikes ungeduldig, »ich würde es ihm besorgen, wie ich's gesagt hab'.«

Fagin faßte den Verbrecher scharf ins Auge, dann bedeutete er ihm zu schweigen, beugte sich über den schlafenden Noah Claypole und wollte ihn wecken. Sikes beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, vor und stierte verständnislos vor sich hin.

»Der arme Bolter,« sagte Fagin und verbarg mühsam sein teuflisches Grinsen. »Er ist noch ganz müd vom langen Aufpassen auf – auf sie, vom Aufpassen auf sie, Bill.«

»Was soll das heißen?« fuhr Sikes auf.

Fagin gab keine Antwort und bückte sich abermals über den Schläfer. Nach und nach kam Noah zu sich. Er gähnte und sah sich verschlafen um.

»Erzählen Sie mir doch noch emol die Geschichte,« forderte ihn der Jude auf, auf Sikes deutend.

»Erzählen? Was soll ich erzählen?« fragte Noah verdrießlich.

»Die Geschichte von der – Nancy,« sagte Fagin[349] und packte Sikes am Handgelenk, um ihn zurückzuhalten, falls er vorzeitig aus dem Zimmer stürzen wollte. »Sie sind ihr doch nachgegangen?«

»Ja.«

»Auf die Londonbrücke?«

»Ja.«

»Dort hat sie zwei Leinte getroffen?«

»Ja, die hat sie getroffen.«

»Einen Herrn und eine Dame, bei denen sie schon frieher war?«

»Ja.«

»Und sie hat ihnen sollen in die Hände liefern alle ihre Kollegen und zuverderscht den Monks?«

»Ja.«

»Und hat ihnen ä genaue Beschreibung gegeben von ihm?«

»Ja.«

»Und hat gesagt, wo wir zu Hause sind?«

»Ja.«

»Und hat alles erzählt Wort für Wort, ohne daß man sie dabei bedroht hätt' oder sie gezwungen hätt'?«

»Ja, ja.«

»Ja, ja, ja, ja« wiederholte Fagin halb wahnsinnig vor Wut.

»Ja, es ist alles so, wie Sie sagen,« antwortete Noah und kratzte sich hinter den Ohren. »Genau so ist es zugegangen.«

»Was haben se zusammen geredet am vorigen Sonntag?«

»Am vorigen Sonntag?« wiederholte Noah sich besinnend. »Aber das hab' ich Ihnen doch schon einmal gesagt.«

»Sagen Sie's noch emol, sagen Sie's noch emol,« schrie Fagin und krallte seine Finger um Sikes' Handgelenk, mit der andern in der Luft herumfuchtelnd, während ihm der Schaum vor den Mund trat.

»Die Leute haben gefragt,« berichtete Noah, munterer werdend und allmählich begreifend, wer Sikes wohl sein möchte, »die beiden haben sie gefragt, warum sie letzten Sonntag nicht gekommen ist, wie sie versprochen[350] hatte. Darauf hat sie gesagt, sie hätte nicht können.«

»Worum, worum hat sie nicht können?«

»Weil sie von Bill, von dem sie ihnen schon früher erzählt hatte, gewaltsam zurückgehalten worden sei –«

»Und weiter,« schrie Fagin, »was hat sie noch weiter vom Bill gesagt?«

»Nun, daß sie nicht so leicht von Haus weg kann, ohne daß er's weiß, darum habe sie ihm – hahaha –« Noah konnte das Lachen kaum mehr zurückhalten. »Ich hab' damals schon so lachen müssen,« entschuldigte er sich. »Erst als sie ihm Laudanum eingegeben hatte, konnte sie das erste Mal aus dem Haus.«

»Der Teufel soll sie zerreißen,« schrie Sikes und wand sich von dem Juden los. »Losgelassen.«

Und er schleuderte den Alten weit von sich und stürzte wie ein Rasender die Treppe hinab.

»Bill, Bill,« rief ihm der Jude, der ihm hastig folgte, nach, »ein Wort nur noch.«

Er hätte das Wort nie sagen können, wäre es dem Einbrecher möglich gewesen, die Türe zu öffnen. Fagin holte ihn ein.

»Laß mich,« keuchte Sikes, »kein Wort jetzt, laß mich, sag' ich.«

»Nur noch e Wort,« flüsterte Fagin und legte die Hand auf die Klinke, »Sie werden doch nicht –«

»Was?«

»Sie werden doch nicht zu weit gehen, Bill?«

Es war bereits hell genug geworden, daß die beiden einander in die Augen sehen konnten. Sie tauschten einen kurzen Blick. Es blitzte darin ein stummes Wort, das nicht mißverstanden werden konnte.

»Ich will sagen,« fuhr Fagin heimlich fort, die Maske abwerfend, »ich will nur sagen: tun Sie nix, was sich nicht verträgt mit der Sicherheit. Seien Sie schlau, Bill, und nix riskieren.«

Sikes antwortete nicht. Er stieß die Türe auf, deren Schloß Fagin geöffnet hatte, und stürzte hinaus auf die Straße.

Ohne nur eine Sekunde innezuhalten, starr und[351] unverrückt vor sich hinstarrend, die Zähne zusammengebissen, daß die Kiefermuskeln hervortraten, lief der Einbrecher immer geradeaus und zuckte mit keiner Wimper, bis er seine eigene Haustüre erreicht hatte. Er öffnete sie leise mit einem Schlüssel und schlich sich die Treppe empor, trat in sein Zimmer, verschloß es und schob einen schweren Tisch gegen die Türe. Dann zog er den Bettvorhang zurück.

Nancy lag halbangekleidet da. Er hatte sie im Schlaf gestört, und sie blickte hastig auf.

»Aufgestanden«, keuchte er.

»Du bist's, Bill,« sagte das Mädchen, sichtlich entzückt über seine Heimkehr.

»Ja, ich bin's,« war die Antwort, »aufgestanden.«

Es brannte eine Kerze, aber der Verbrecher riß sie aus dem Leuchter und schleuderte sie in die Asche. Von draußen schien mattes Tageslicht herein, und das Mädchen stand auf, um die Gardine zusammenzurollen.

»Laß das,« knurrte Sikes und stieß sie zurück. »Es ist genug Licht für das, was ich vorhab'.«

»Bill,« flüsterte das Mädchen, sprachlos vor Entsetzen. »Was stierst du mich so an!«

Ein paar Sekunden blieb der Verbrecher regungslos stehen und betrachtete sie mit den geblähten Nüstern und wogender Brust. Dann packte er sie am Kopf und an der Kehle und schleppte sie in die Mitte des Zimmers. Mit einem Blick auf die Türe legte er seine schwere Hand an ihre Gurgel.

»Bill, Bill,« röchelte das Mädchen und kämpfte mit Todesangst gegen seinen Griff. »Ich – ich – ich will ja nicht schreien – nicht ein einziges Mal – so sprich doch – sag' doch, was hab' ich getan.«

»Du weißt es selbst, du Aas,« knirschte der Einbrecher zwischen den Zähnen durch. »Man hat dich in der Nacht beobachtet. Jedes Wort weiß ich, das du gesagt hast.«

»Dann schone mein Leben um des Allbarmherzigen willen, wie ich deines geschont habe,« jammerte Nancy und klammerte sich an ihn. »Bill, lieber Bill, du kannst mich doch nicht ermorden wollen. Bedenke, was ich gestern deinetwegen aufgegeben habe, laß dir Zeit und[352] denke nach und du wirst nicht ein neues Verbrechen begehen. Ich will dich festhalten – du kannst mich nicht abschütteln. Bill, Bill, um Himmelswillen, um deinetwillen, um meinetwillen denk' nach, bevor du mich umbringst. Ich bin dir treu geblieben, so wahr mir Gott helfe.«

Mit aller Kraft kämpfte Sikes, um seine Arme frei zu kriegen, aber die des Mädchens schlangen sich so fest um ihn, daß es ihm nicht gelang.

»Bill,« schrie Nancy und versuchte, ihren Kopf an seine Brust zu legen, »der alte Herr und das liebe Fräulein haben mir heute Nacht erzählt von einer Heimat, die wir in einem fremden Lande haben können. Laß mich wieder zu ihnen, und ich werde sie auf den Knien bitten, daß sie dir dieselbe Barmherzigkeit erweisen, wie sie mir sie angeboten haben. Wir wollen dann beide fort von hier und ein andres Leben anfangen. Zur Reue ist es nie zu spät, das haben sie mir gesagt, – und ich fühle, sie haben recht. Aber wir müssen Zeit haben, – nur ein wenig Zeit noch.«

Da bekam der Verbrecher einen Arm frei und faßte nach seiner Pistole. Eine Sekundelang überlegte er, ob er losdrücken sollte, dann sagte er sich, das würde ihn verraten. Mit aller Kraft, die er aufwenden konnte, schlug er in das nach aufwärts gekehrte Gesicht des Mädchens, das fast das seinige berührte.

Sie taumelte und fiel, blind von dem Blut, das ihr aus einer klaffenden Wunde von der Stirn in die Augen lief. Mühsam erhob sie sich noch einmal auf die Knie und zog aus ihrem Brustlatz ein weißes Tuch – das Tuch Rose Maylies –, sie hielt es mit gefalteten Händen in die Höhe und murmelte ein Gebet um Erbarmen zum Himmel empor.

Es war ein grausiges Bild.

Der Mörder taumelte zurück, bedeckte die Augen mit der Hand, um Nancy nicht mehr zu sehen, dann packte er einen Knüttel und schlug sie zu Boden.[353]

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 347-354.
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