Vierzehntes Kapitel

[94] Eine bemerkenswerte Prophezeiung eines gewissen Mr. Grimwick über Oliver Twist.


Als sich Oliver bald wieder von der Ohnmacht, in die er infolge des plötzlichen Ausrufs Mr. Brownlows gefallen war, erholt hatte, vermieden der alte Herr und Mrs. Bedwin sorgfältig, das Gespräch abermals auf ein Thema zu bringen, das irgendwie mit dem Bild, seiner Herkunft oder seiner Geschichte zusammenhing.

»Ja,« sagte die Haushälterin, als sie Olivers fragenden Blick bemerkte, »wie du siehst, hat man es entfernt.«

»Ich sehe, Madame,« antwortete Oliver. »Warum haben Sie es fortgenommen?«

»Ach Gott, Mr. Brownlow meinte, es könnte dich aufregen und deiner Gesundheit schaden,« antwortete die alte Dame.

»O nein, gewiß nicht, es hat mich gar nicht aufgeregt, Mrs. Bedwin,« sagte Oliver, »es hat mich im Gegenteil sehr gefreut; ich habe es gern gehabt.«

»Schon gut, schon gut,« sagte die alte Dame froh gelaunt, »schau nur zu, daß du bald gesund wirst, damit es wieder aufgehängt werden kann, Kind. Ich verspreche es dir, es wird geschehen. Aber reden wir jetzt von etwas anderem.«

Weiteres konnte Oliver zunächst nicht über das Bild erfahren. Da die alte Dame seine ganze Krankheit hindurch so lieb zu ihm gewesen war, trachtete er, sich die Sache aus dem Kopf zu schlagen, aber immer hörte er aufmerksam zu, wenn sie ihm von ihrer hübschen lieben Tochter erzählte, die mit einem braven Mann verheiratet sei und auf dem Lande wohne, und ebenso von ihrem Sohn, der bei einem Kaufmann in Westindien in Diensten stehe und ebenfalls ein braver junger Mann[94] sei und ihr viermal im Jahr einen so braven lieben Brief nach Hause schriebe, daß ihr, wenn sie nur davon spreche, Tränen in die Augen träten. Nach dem Tee lehrte sie Oliver Sechsundsechzig spielen, was er so schnell begriff, daß es eine Freude war, und sie spielten so eifrig und ernst miteinander, daß die Zeit im Handumdrehen verging und es für den Patienten Zeit wurde, etwas warmen Wein mit Wasser und Zwieback zu sich zu nehmen und dann zu Bett zu gehen.

Es waren glückliche Tage für Oliver, diese Tage seiner Genesung. Alles wickelte sich so ruhig und friedlich ab, und jeder war so lieb und freundlich zu ihm, daß er sich vorkam wie im Himmel. Als er sich kräftig genug fühlte, um sich selber anziehen zu können, kaufte ihm Mr. Brownlow einen neuen Anzug, eine neue Mütze und ein Paar Stiefel. Seine eigenen alten Sachen durfte Oliver einer Dienerin schenken, die sehr freundlich zu ihm gewesen war, und man sagte ihr, sie solle sie bei einem Juden verkaufen und das Geld für sich behalten. Dies tat sie denn auch, und wie Oliver von seinem Zimmerfenster aus sah, wie der Jude die Sachen in einen Sack packte und damit fortging, fühlte er sich unendlich glücklich bei dem Gedanken, daß sie für immer weg seien und er sie niemals wieder würde tragen müssen. Es waren bloß ärmliche Lumpen gewesen, denn niemals zuvor hatte Oliver einen Anzug gehabt.

Eines Abends, ungefähr eine Woche später, saßen Oliver und Mrs. Bedwin wiederum plaudernd beisammen, als Mr. Brownlow hinunterschickte und sagen ließ, Oliver möchte doch für ein Weilchen zu ihm ins Studierzimmer kommen.

»Gott bewahre, Kind, wasch' dir schnell die Hände und komm, damit ich dich kämmen kann,« rief Mrs. Bedwin. »O mein Himmel, hätte ich geahnt, daß er dich holen läßt, hätte ich dir einen reinen Kragen gegeben.«

Oliver gehorchte, und trotzdem Mrs. Bedwin heftig jammerte, daß ihr gar nicht mehr Zeit bliebe, die kleine Krause zu bügeln, die er an seinem Hemdkragen trug, sah er trotzdem so sauber und nett aus, daß sie ihn befriedigt vom Scheitel bis zur Sohle betrachtete, und[95] immer wieder sagte, sie hätte gar nicht geglaubt, daß ihn der neue Anzug so herausputzen würde.

Auf diese Weise ermutigt, klopfte Oliver an die Tür des Studierzimmers seines Wohltäters. Auf Mr. Brownlows Herein! trat er näher und stand bald darauf in einem ganz mit Büchern angefüllten Zimmer, das nur ein Fenster hatte. Der Tisch war ins Helle gerückt, und davor saß Mr. Brownlow mit einem Buch in der Hand. Als er Oliver erblickte, legte er es beiseite und forderte ihn auf, näher zu kommen und sich niederzusetzen. Oliver gehorchte. Er wunderte sich, woher nur alle die Leute kommen möchten, die so viel Bücher schrieben, und was für unendliche Weisheit es auf Erden geben müßte.

»Es ist eine recht große Bibliothek, nicht wahr, mein Junge?« fragte Mr. Brownlow, als er Olivers neugierigen Blick auf die Regale bemerkte.

»Sehr, sehr viel Bücher, Sir,« antwortete Oliver, »so viel hab' ich noch nie in meinem Leben beisammen gesehen.«

»Du sollst sie lesen, wenn du brav bist; dann werden sie dir viel besser gefallen als jetzt von außen. In manchen Fällen ist es wenigstens so; allerdings es gibt auch Bücher, bei denen der Rücken und der Einband weitaus das beste sind.«

»Das gilt wohl von den dicken Bänden dort, Sir?« fragte Oliver und deutete auf ein paar ungeheure Quartbände, deren Einbände nur so strotzten von goldenen Verzierungen.

»Nein, nicht doch, so ganz stimmt das nicht,« antwortete der alte Herr und strich Oliver lächelnd mit der Hand über den Kopf. »Es sind da noch andere ebenso dick, wenn auch kleiner, – aber was meinst du, wenn du einmal ein gescheiter Mann würdest und selber Bücher schriebst, wie?«

»Es würde mich wohl mehr freuen, sie bloß zu lesen, Sir,« sagte Oliver.

»Was? Du hast also keine Lust, Schriftsteller zu werden?« fragte der alte Herr.

Eine Weile überlegte Oliver, dann sagte er, am besten wäre es wohl, wenn man Buchhändler wäre.

Darüber mußte der alte Herr herzlich lachen und[96] meinte, Oliver habe da etwas recht Gescheites gesagt. Der Kleine freute sich, wenn er auch nicht wußte, inwiefern er eigentlich so gescheit gewesen sei.

»Nun, laß das gut sein,« sagte der alte Herr, »und fürchte dich nicht; wir machen ja keinen Schriftsteller aus dir, so lange du noch ein ehrliches Gewerbe lernen kannst, wie zum Beispiel Ziegelbrenner.«

»Ich danke Ihnen von Herzen, Sir.«

Wieder mußte der alte Herr herzlich lachen und sagte etwas über natürlichen Instinkt, was Oliver nicht verstand.

»Aber jetzt,« fuhr Mr. Brownlow freundlich, doch ernsthafter als bisher fort, »aber jetzt gib mal recht acht auf das, was ich dir sagen werde. Ich will rückhaltlos mit dir sprechen, denn ich weiß, daß du mich ebenso gut verstehen wirst wie ältere Leute.«

»O bitte, sagen Sie nicht, daß Sie mich wegschicken wollen, bitte, bitte nicht, Sir,« rief Oliver bestürzt über den Ernst, mit dem der alte Herr begonnen hatte. »Schicken Sie mich nicht wieder auf die Straße hinaus, lassen Sie mich hierbleiben und Ihnen dienen. Schicken Sie mich nicht wieder an den schrecklichen Ort, wo ich hergekommen bin, haben Sie Mitleid mit mir, Sir.«

»Liebes Kind,« sagte der alte Herr, von der Innigkeit der Bitte ergriffen, »du brauchst keine Furcht zu haben, daß ich meine Hand von dir abziehen werde, so lange du nicht selbst mir Veranlassung dazu gibst.«

»Das wird nie, nie der Fall sein, Sir,« beteuerte Oliver.

»Wir wollen es hoffen,« erwiderte der alte Herr, »ich erwarte auch nicht, daß jemals der Fall eintreten wird. Man hat mich früher oft getäuscht, und gerade Leute, denen ich Gutes zu tun bestrebt war. Doch nichtsdestoweniger will ich dir trauen und nehme an deinem Wohlergehen mehr Anteil, als ich nach meinen bisherigen Erfahrungen eigentlich tun sollte. Diejenigen, denen ich viel Gutes und Liebes erwiesen, liegen bereits im Grabe. Aber wenn auch das Glück und die Freude meines Lebens ebenfalls dort begraben liegt, so ist mein Herz doch noch kein Sarg geworden und der Deckel noch nicht geschlossen über meinen Sympathien. Der Kummer hat mich bisher nur gestärkt und gebessert.«[97]

Der alte Herr sagte das mit leiser Stimme und mehr zu sich selbst als zu dem Kleinen, dann blieb er eine Weile stumm, und auch Oliver saß still und regungslos da.

»Lassen wir es gut sein,« fing der alte Herr endlich wieder an, und zwar sehr heiter. »Ich habe dir das nur gesagt, weil dein Herz noch jung ist und du dir vielleicht infolgedessen vornehmen wirst, mir nicht wehe zu tun, wenn dir bekannt ist, wieviel Leid ich schon erlitten habe. Du hast gesagt, du seist eine Waise und besäßest keinen Freund auf der Welt, und die Erkundigungen, die ich diesbezüglich einholte, haben die Wahrheit bestätigt. Erzähle mir deine Geschichte und sage mir, wo du herkommst, wo du erzogen bist und wie du in die schlechte Gesellschaft gerietest, in der ich dich fand. Sprich nur die Wahrheit, und so lange ich lebe, will ich dein Freund sein.«

Eine Zeitlang konnte Oliver vor Schluchzen gar nicht reden. Er wollte eben beginnen, wie er im Armenhaus erzogen wurde und wie ihn Mr. Bumble ins Arbeitshaus gebracht habe, als es zweimal hintereinander an der Haustür klopfte, das Dienstmädchen heraufkam und Mr. Grimwig meldete. »Kommt er herauf?« fragte Mr. Brownlow.

»Jawohl, Sir,« sagte das Dienstmädchen, »er hat gefragt, ob frische Semmeln im Haus seien, und als ich's bejahte, meinte er, er sei zum Tee gekommen.«

Mr. Brownlow lächelte und erklärte Oliver, Mr. Grimwig sei ein alter Freund von ihm, und er solle sich nicht etwa vor ihm fürchten, denn Mr. Grimwig habe nur eine so rauhe Schale; im Grund seines Herzens sei er jedoch ein braver Mann, wie es kaum einen bessern gebe.

»Soll ich hinuntergehen, Sir?« fragte Oliver.

»Nein, mir ist es lieber, du bleibst.«

In diesem Augenblick trat, auf einen Spazierstock gestützt, ein rüstiger alter Herr ein, der auf einem Bein ein wenig lahmte, einen blauen Rock, eine gestreifte Weste, Nankinghosen und Gamaschen trug und auf dem Kopf einen breitrandigen weißen Hut sitzen hatte, dessen aufgekrempte Ränder grüne Borten zierten. Eine enggefältelte[98] Krause guckte aus der Weste hervor, und eine außerordentlich lange stählerne Uhrkette, an deren Ende ein Schlüssel hing, baumelte ihm nachlässig aus der Tasche heraus. Die Enden seiner weißen Halsbinde waren zu einem Knäuel zusammengedreht, ungefähr von der Größe einer Orange. Mr. Grimwig hatte eine ganz eigentümliche Art, Gesichter zu schneiden, und drehte beim Sprechen stets den Kopf hin und her, wobei er aus den Augenwinkeln hervorlugte wie ein Papagei. Gleich beim Eintreten benahm er sich so und rief dabei, mit der ausgestreckten Hand ein kleines Stückchen Orangenschale hinhaltend, knurrend und verdrießlich:

»Da schauen Sie mal her! Sehen Sie sich das an! Man kann doch rein keinen Menschen besuchen, ohne nicht ein Stück von diesem Lieblingsgegenstand miserabler Chirurgen auf der Treppe zu finden. Eine Orangenschale ist die Ursache, daß ich ein Krüppel geworden bin, eine Orangenschale wird, das weiß ich bestimmt, noch einmal die Ursache meines Todes sein. Ganz gewiß und wahrhaftig. Meinen Kopf will ich auf der Stelle aufessen, wenn ich nicht recht habe. Dieses merkwürdige Anerbieten pflegte Mr. Grimwig bei fast jeder Behauptung, die er aufstellte, zu machen.« »Ich will meinen Kopf aufessen! sage ich, Sir,« wiederholte Mr. Grimwig und stieß mit dem Stock heftig auf den Boden. »Hallo, wer ist denn das?« rief er gleich darauf, als er Oliver erblickte, und trat einen Schritt zurück.

»Der junge Oliver Twist, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe,« sagte Mr. Brownlow.

Oliver verbeugte sich.

»Das ist doch nicht etwa der Junge, der das Fieber hatte, was?« fragte Mr. Grimwig und wich noch weiter zurück. »Warten Sie ein bißchen; kein Wort weiter,« fuhr er fort, triumphierend über eine Entdeckung, die er offenbar gemacht hatte. »Ich weiß es jetzt: der Junge hat die Orangenschalen weggeworfen. Wenn er es nicht gewesen ist, der ein Stück davon auf die Treppe geworfen hat, dann will ich auf der Stelle meinen Kopf aufessen und den seinigen dazu.«

»Nein, nein, er kann es nicht gewesen sein,« sagte[99] Mr. Brownlow lachend, »kommen Sie nur, nehmen Sie den Hut ab und sprechen Sie ein paar Worte mit meinem kleinen jungen Freund.«

»Sie wissen, die Sache mit den Orangenschalen erregt mich immer sehr stark, Sir,« entschuldigte sich der streitbare alte Herr und zog seine Handschuhe aus. »Immer liegen Orangenschalen auf dem Pflaster, einmal mehr, einmal weniger. Etwas weiß ich ganz bestimmt: der Junge des Chirurgen, der an der Ecke wohnt, ist's, der sie immer hinwirft. Gestern abend ist noch ein junges Mädchen über ein Stück ausgerutscht und gegen mein Gartengitter gefallen, und schon sah ich, wie sie nach der verdammten roten Lampe dieses Kurpfuschers hinguckte. ›Gehen Sie nicht zu ihm,‹ rief ich ihr aus dem Fenster zu, ›er ist ein Mörder.‹ Jawohl, das ist er auch und nichts anderes. Wenn er es nicht ist, so will ich auf der Stelle« – abermals stieß der reizbare alte Herr mit dem Stock auf den Boden, setzte sich aber dann, den Stock immer noch in der Hand, auf einen Sessel, hielt sich eine Lorgnette, die er an einem breiten schwarzen Band trug, vor die Augen und besichtigte Oliver, der dabei hochrot wurde.

»Das also ist der Junge, was?« fragte Mr. Grimwig endlich.

»Ja, das ist er,« sagte Mr. Brownlow.

»Wie geht es dir, mein Junge?« fragte Mr. Grimwig.

»O schon viel besser, Sir, ich danke,« antwortete Oliver.

Da Mr. Brownlow zu befürchten schien, sein sonderbarer Freund würde gleich etwas Unangenehmes sagen, befahl er Oliver, er solle zu Mrs. Bedwin hinuntergehen, um ihr auszurichten, daß man auf den Tee warte. Oliver war darüber sehr glücklich, denn Mr. Brownlow sprach so freundlich zu ihm.

»Er ist ein netter kleiner Kerl, nicht wahr?« fragte Mr. Brownlow, als Oliver draußen war.

»Könnte ich nicht behaupten.«

»Das könnten Sie nicht behaupten?«

»Nein. Ich kenne keinen Unterschied zwischen Jungen. Die eine Sorte hat Mehlgesichter und die andere Fleischgesichter.«[100]

»Und zu welchen gehört Oliver?«

»Zu den Mehlgesichtern. Ich habe einen Freund, der hat einen famosen Jungen, das heißt, einen mit einem runden Schädel, glänzenden Augen und roten Backen. Er aber ist ein Ekel. Immer sieht er so aus, als ob er aus seinen Nähten herausplatzen wollte, und brüllen kann er wie ein Lotse, und einen Appetit hat er wie ein Wolf. Kurz und gut: ich kenne keinen ekelhafteren Lümmel.«

»Nun,« besänftigte Mr. Brownlow, »solche Eigenschaften besitzt Oliver wirklich nicht. Sie brauchen also gar nicht in Zorn zu geraten.«

»Nicht?« wiederholte Mr. Grimwig. »Dann hat er wahrscheinlich noch schlechtere Eigenschaften.«

Mr. Brownlow hüstelte ungeduldig, und das schien Mr. Grimwig große Freude zu bereiten.

»Wie gesagt, dann hat er wahrscheinlich schlimmere,« wiederholte er noch einmal. »Wo kommt er übrigens her? Wer ist er? Was ist er? Fieber hat er gehabt? Was soll das bedeuten? Gute Menschen haben kein Fieber. Oder? Schlechte Menschen dagegen immer. Was? Ich habe mir einmal von einem Mann erzählen lassen, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn ermordet hatte. Der Kerl hat mindestens sechsmal das Fieber gehabt, aber begnadigt wurde er deshalb noch lange nicht. Lächerlich, es wäre ja auch Unsinn gewesen.«

In Wirklichkeit fühlte Mr. Grimwig eigentlich eine große Neigung zu Oliver. Er war ein Junge von ungewöhnlich einnehmendem Äußern, aber Mr. Grimwig besaß einen starken Widerspruchsgeist und ging nur darauf aus, seinen alten Freund zu reizen, weil er außerordentlich erbittert war, daß er auf der Treppe eine Orangenschale gefunden hatte. Er nahm sich deshalb fest vor, ob der Junge auch gut aussehe oder nicht, seinem alten Freund unter allen Umständen zu widersprechen. Als Mr. Brownlow gestand, er wisse bis jetzt noch nichts Genaueres über Oliver und jede Nachforschung darüber habe er hinausgeschoben, bis der kleine Patient wieder kräftig genug sei, ein Verhör zu bestehen, kicherte Mr. Grimwig boshaft in sich hinein und fragte[101] hämisch, ob denn Mrs. Bedwin auch immer abends das Silberzeug zähle, und er würde sich gar nicht wundern, wenn sie eines schönen Morgens ein paar Suppenlöffel vermissen sollte. Wäre er im Unrecht, so wolle er auf der Stelle usw. usw.

Gut gelaunt hörte Mr. Brownlow, trotzdem er selbst ziemlich aufbrausender Natur war, alles dies an, kannte er doch die Eigenschaft seines alten Freundes. Und als Mr. Grimwig überdies geruhte, den frischen Semmeln seine Anerkennung zuteil werden zu lassen, war die Sache bald in Ordnung, und Oliver, der am Tee teilnahm, fing bald an, sich in Gegenwart des grimmigen alten Herrn wohler zu fühlen, als er es noch vor kurzem für möglich gehalten hätte.

»Wann gedenken Sie also Oliver Twist ausführlich über sein Leben und seine Abenteuer auszuholen?« fragte Mr. Grimwig, als die Mahlzeit zu Ende war, mit einem Seitenblick zu Oliver.

»Morgen vormittag, ich werde dann unter vier Augen mit ihm reden. Komm also morgen vormittag um zehn Uhr zu mir herauf, lieber Junge.«

»Gewiß, Sir,« erwiderte Oliver. Er antwortete nicht ohne Zögern, denn die scharfen Blicke, die Mr. Grimwig auf ihn richtete, verwirrten ihn nicht wenig.

»Ich will Ihnen etwas sagen,« flüsterte der alte Herr Mr. Brownlow zu, »der Junge kommt morgen vormittag nicht zu Ihnen herauf, ich habe genau gesehen, wie er mit seiner Antwort gezögert hat. Der Bursche hintergeht Sie, lieber Freund.«

»Gewiß nicht, darauf könnte ich einen Eid leisten,« rief Mr. Brownlow mit Wärme.

»Wenn er's nicht tut,« widersprach Mr. Grimwig, »dann will ich auf der Stelle –« Wieder stieß er heftig mit dem Stock auf den Boden.

»Ich möchte mit meinem Leben dafür einstehen, daß Oliver ein ehrlicher Bursche ist,« sagte Mr. Brownlow und schlug ebenfalls auf den Tisch.

»Ich hafte mit meinem Kopf dafür, daß er ein hinterlistiger Bursche ist,« fuhr Mr. Grimwig auf und schlug auch seinerseits auf den Tisch.[102]

»Sie werden ja sehen,« meinte Mr. Brownlow, seinen Zorn unterdrückend.

»Jawohl, das werden wir sehen,« höhnte Mr. Grimwig mit einem herausfordernden Lächeln.

In diesem Augenblick brachte Mrs. Bedwin ein kleines Paket Bücher herauf, die Mr. Brownlow am Morgen in demselben Bücherladen gekauft hatte, vor dem ihm das Taschentuch gestohlen worden war. Sie schickte sich sodann an, das Zimmer zu verlassen.

»Lassen Sie den Laufburschen unten warten, Mrs. Bedwin,« befahl Mr. Brownlow, »er soll wieder einige Bücher mitnehmen.«

»Er ist schon fort, Sir.«

»So rufen Sie ihn zurück. Die Sache ist sehr wichtig; die Bücher sind noch nicht bezahlt; er muß sie gleich wieder mitnehmen.«

Man riß die Haustüre auf, und Oliver rannte hinaus und das Dienstmädchen hinter ihm. Mrs. Bedwin stand auf der Türschwelle und schrie nach dem Laufburschen, aber es war kein solcher mehr zu sehen. Oliver und das Dienstmädchen kamen atemlos zurück, und beide meldeten, man habe den Jungen nicht mehr getroffen.

»Das ist unangenehm,« sagte Mr. Brownlow, »es läge mir sehr viel daran, daß die Bücher heute noch zurückkommen.«

»So schicken Sie doch Oliver mit ihnen hin,« riet Mr. Grimwig mit ironischem Lächeln, »er gibt sie pünktlich und unversehrt wieder ab; Sie wissen das doch.«

»Ja, lassen Sie mich die Bücher besorgen, Sir,« erbot sich Oliver, »ich würde laufen den ganzen Weg hindurch.«

Der alte Herr wollte schon protestieren, aber da Mr. Grimwig gar so boshaft lächelte, gab er nach, um ihm zu beweisen, daß er Oliver in falschem Verdacht habe.

»Also gut, du kannst gehen, lieber Junge,« sagte er, »die Bücher liegen auf einem Stuhl neben meinem Schreibtisch, hol sie herunter.«

Oliver war glücklich, sich nützlich machen zu dürfen, und brachte die Bände hastig unter dem Arm herbeigeschleppt. Dann wartete er, die Mütze in der Hand, was er ausrichten solle.[103]

»Sage,« befahl Mr. Brownlow, dabei Mr. Grimwig beständig ansehend, »du brächtest diese Bücher zurück und solltest vier Pfund bezahlen, die ich schuldig bin. Hier hast du eine Fünfpfundnote, du mußt mir also zwanzig Schilling zurückbringen.«

»Ich bin in zehn Minuten wieder hier,« antwortete Oliver eifrig, steckte die Banknoten in seine Tasche, nahm die Bücher unter den Arm, verbeugte sich und ging. Mrs. Bedwin begleitete ihn bis zur Haustür und gab ihm dort noch allerhand Weisungen, welches die nächste Straße sei, wie der Buchhändler heiße und so weiter, bis Oliver sagte, er habe alles deutlich begriffen. Schließlich schärfte sie ihm noch ein, er solle sich ja nicht erkälten, und entließ ihn endlich.

»So ein liebes gutes Gesicht hat er,« sagte die alte Dame, »ich kann's gar nicht übers Herz bringen, ihn aus den Augen zu lassen.«

In dieser Sekunde blickte sich Oliver fröhlich um und nickte ihr zu, ehe er um die Ecke bog.

Die alte Dame erwiderte lächelnd seinen Gruß, schloß die Türe und ging in das Haus zurück.

»Wollen doch mal sehen. In zwanzig Minuten spätestens kann er wieder hier sein,« sagte Mr. Brownlow, nahm seine Uhr aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Bis dahin wirds schon dunkel sein.«

»Sie glauben also wirklich, daß er wiederkommt?« fragte Mr. Grimwig höhnisch.

»Sie etwa nicht?«

Der Widerspruchsgeist regte sich in diesem Augenblick so heftig in Mr. Grimwigs Brust, daß er seinen Zorn kaum verbeißen konnte.

»Nein,« sagte er und schlug mit der Faust auf den Tisch, »ich glaub das nicht. Der Junge hat einen neuen Anzug, ein Paket wertvoller Bücher unter dem Arm und eine Fünfpfundnote im Rock. Er wird sich sofort zu seinen alten Freunden, den Taschendieben, gesellen und Ihnen eine Nase drehen. Wenn er jetzt noch nach Hause kommt, dann will ich meinen eignen Kopf –«

Dabei zog er seinen Stuhl näher an den Tisch. So saßen die beiden alten Herrn dort in stummer Erwartung, ob Oliver zurückkommen werde oder nicht.[104]

Es wurde dunkel und immer dunkler, und die Zahlen auf dem Zifferblatt waren kaum mehr zu unterscheiden. Immer noch saßen die beiden alten Herrn schweigend da, die Uhr vor sich auf dem Tisch.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 94-105.
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