6.

[187] Du Stadt der Bildung und des Tees, der Künste und der Nücken,

Leb wohl, der Dichter weist enttäuscht auf ewig dir den Rücken!

Kalt dünkt' es ihm, so lang er saß in deinen stolzen Mauern,

Und niemals wollt ihm drin ein Lied, ein heimatliches, glücken.

Für schweres Gold erkauft' er sich nur federleichte Liebe

Und konnte keine Männerhand warm und vertrauend drücken.

In deinen Linden wohnt kein Lenz, kein Herz in den Palästen,

Und sollten sie durch Pracht und Glanz den Blinden selbst entzücken;

Auf deinen Straßen hüpft geschminkt die Armut und die Lüge,

Verleumdung schlägt und Heuchelei dem Laster goldne Brücken,

Und wenn die Frömmler vor dem Kreuz sich tief und süßlich bücken,

So wissen sie doch tiefer noch vor Kreuzen sich zu bücken,

Dein König räumt und baut in dir, er schafft mit Allmachts-Händen

Nichts mehr als ein musivisch Werk aus hundert-tausend Stücken,

Die Dichter ruft er fern und nah, die Maler und die Sänger

Und stopft mit großen Namen aus der großen Männer Lücken.[188]

Die Namen tun es freilich nicht, und sein sie europäisch,

Sie können nur als Säulenzier des Tempels Neubau schmücken;

Doch nur der Jugend tapfre Hand, nur frischer Geister Streben

Kann von dem Baum der Gegenwart lebend'ge Früchte pflücken.

Leicht welkt der beste Lorbeerkranz auf alters-kahler Scheitel,

Und ein Genie geht auch nicht weit auf Stelzen oder Krücken.

Ihr schreit genug, Ihr schreibt genug, Ihr seht durch Eure Brillen

Im Kater einen Löwen gleich und Adler in den Mücken;

Wir aber, hinterm Berge hier, wir lassen uns nicht blenden,

Wir wissen auch, was rechtes Haar, was Zöpfe und Perücken.

Das sag' ich Euch in vieler Sinn, und sollt' es Euch verletzen,

So mögt Ihr Euch am rechten Fleck ganz ungehindert jücken.

Und wär' ich schlechten Reimen hold, ich wüßte wohl noch manches,

Das trefflich paßt auf Euren Stolz, auf Eure alten Tücken:

Ihr wißt doch, was »ersticken« heißt, was »zwicken«, »flicken«, »knicken«,

Was geistige »Fabriken« sind und stille »Katholiken«, –?

Allein ich hab' es selber satt und weise, mit Behagen,

Du eitle, kalte, falsche Stadt auf ewig dir den Rücken! –

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 187-189.
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