VIII.

[182] Schatow traf ich nicht zu Hause; ich ging zwei Stunden darauf noch einmal heran: er war wieder nicht da. Endlich, es war schon sieben durch, begab ich mich noch einmal zu ihm, um ihn entweder anzutreffen oder einen Zettel für ihn dazulassen; aber auch diesmal traf ich ihn nicht. Seine Wohnung war verschlossen, und er wohnte allein, ohne alle Bedienung. Ich wollte unten bei Hauptmann Lebjadkin vorsprechen, um nach Schatow zu fragen;[182] aber auch da war zugeschlossen und kein Laut zu hören und kein Licht zu sehen; es schien kein Mensch da zu sein. Neugierig ging ich unter der Nachwirkung der kurz vorher gehörten Erzählungen an Lebjadkins Tür vorbei. Schließlich entschied ich mich dafür, am nächsten Tage recht früh wiederzukommen. Auch auf den Zettel setzte ich, um die Wahrheit zu sagen, nicht viel Hoffnung. Sehr möglich, daß Schatow sich nicht darum kümmerte; er war so ein eigenwilliger, scheuer Mensch. Mein Mißgeschick verwünschend ging ich schon aus dem Torwege, als ich plötzlich auf Herrn Kirillow stieß; er ging ins Haus und erkannte mich zuerst. Da er selbst zu fragen begann, so erzählte ich ihm alles in den Hauptpunkten und sagte auch, daß ich einen Zettel bei mir hätte.

»Kommen Sie mit!« sagte er; »ich werde alles erledigen.«

Ich erinnerte mich, daß er nach Liputins Mitteilung seit dem Vormittage ein auf dem Hofe gelegenes hölzernes Seitengebäude bewohnte. In diesem Seitengebäude, das für ihn sehr viel Platz bot, wohnte mit ihm zusammen eine alte taube Frau, die bei ihm die Aufwartung hatte. Der Besitzer dieses Hauses hatte in einer andern Straße in einem andern ihm gehörigen, neuen Hause ein Restaurant und hatte diese alte Frau, wohl eine Verwandte von ihm, zurückgelassen, um das ganze alte Haus zu beaufsichtigen. Die Zimmer in diesem Seitengebäude waren ziemlich sauber gehalten, aber die Tapeten schmutzig. In demjenigen Zimmer, in das wir eintraten, waren die Möbel bunt zusammengewürfelt, nicht zueinander passend und von sehr geringem Werte: zwei L'hombretische, eine Kommode von Erlenholz, ein großer Brettertisch aus[183] einer Bauernstube oder einer Küche, ein paar Stühle und ein Sofa mit einer Lattenlehne und harten Lederkissen. In einer Ecke befand sich ein altertümliches Heiligenbild, vor welchem die Alte schon vor unserem Eintritte das Lämpchen angezündet hatte, und an den Wänden hingen zwei große, dunkel gewordene Porträts in Öl; das eine stellte den ehemaligen Kaiser Nikolai Pawlowitsch dar und war, nach dem Aussehen zu urteilen, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts gemalt; das andere war das Bild irgendeines Bischofs.

Herr Kirillow zündete, sobald er eingetreten war, ein Licht an und holte aus seinem Koffer, der in der Ecke stand und noch nicht ausgepackt war, ein Kuvert, Siegellack und ein kristallenes Petschaft heraus.

»Siegeln Sie Ihren Zettel ein, und schreiben Sie die Adresse auf das Kuvert!«

Ich erwiderte, das sei eigentlich nicht nötig; aber er bestand darauf. Nachdem ich das Kuvert adressiert hatte, griff ich nach meiner Mütze.

»Ich dachte, Sie würden bei mir Tee trinken,« sagte er; »ich habe Tee gekauft. Mögen Sie?«

Ich lehnte es nicht ab; die alte Frau brachte bald den Tee, das heißt eine mächtige Kanne mit heißem Wasser, ein kleines Kännchen mit sehr starkem Tee, zwei große, grob bemalte Tassen von Steingut, Semmeln und einen ganzen Teller voll Stückenzucker.

»Ich trinke gern Tee,« sagte er; »nachts; ich gehe viel hin und her und trinke; bis zum Morgengrauen. Im Auslande ist das Teetrinken bei Nacht unbequem.«

»Sie legen sich erst gegen Morgen hin?«[184]

»Ja, immer; schon lange. Ich esse wenig; immer Tee. Liputin ist schlau, aber ungeduldig.«

Es wunderte mich, daß er sich auf ein Gespräch einlassen wollte; ich beschloß, den günstigen Augen blick zu benutzen.

»Es sind vorhin unangenehme Mißverständnisse vorgekommen,« bemerkte ich.

Er machte ein sehr finsteres Gesicht.

»Das sind Dummheiten; das sind lauter Possen. Das sind lauter Possen, weil Lebjadkin ein Trunkenbold ist. Ich habe zu Liputin nichts gesagt, sondern nur erklärt, daß es Possen sind; denn jener Mensch hat gelogen. Liputin hat viel Phantasie; aus einer Mücke macht er einen Elefanten. Ich habe ihm gestern geglaubt.«

»Und heute glauben Sie mir?« fragte ich lachend.

»Sie wissen ja schon von vorhin über alles Bescheid. Liputin ist entweder schwach oder ungeduldig oder böswillig oder ... neidisch.«

Das letzte Wort fiel mir auf.

»Sie haben da so viele Kategorien aufgestellt, daß es nicht wunderbar ist, wenn er in eine von ihnen hineingehört.«

»Oder auch in alle zusammen.«

»Ja, auch das könnte sein. Liputin ist ein reines Chaos. Hat er das wirklich heute erlogen, daß Sie eine Abhandlung schreiben wollen?«

»Warum soll er das erlogen haben?« erwiderte er, wieder mit finsterer Miene und zu Boden blickend.

Ich bat um Entschuldigung und versicherte ihm, daß ich ihn nicht ausfragen wolle. Er wurde rot.[185]

»Er hat die Wahrheit gesagt; ich schreibe. Aber das ist ganz egal.«

Ein Weilchen schwiegen wir beide; auf einmal trat auf sein Gesicht das kindliche Lächeln, das ich schon von vorhin kannte.

»Das von den Köpfen hat er selbst aus einem Buche entnommen und mir selbst zuerst gesagt; er versteht aber schlecht, was ich vorhabe. Ich suche nur die Ursache, weswegen die Menschen es nicht wagen, sich das Leben zu nehmen; weiter nichts. Und das ist ganz egal.«

»Was meinen Sie damit, daß die Menschen es nicht wagen? Gibt es denn etwa so wenig Selbstmörder?«

»Sehr wenige.«

»Finden Sie das wirklich?«

Er antwortete nicht, stand auf und begann nachdenklich auf und ab zu gehen.

»Was hält denn Ihrer Ansicht nach die Menschen vom Selbstmorde zurück?« fragte ich.

Er sah mich zerstreut an, wie wenn er sich zu besinnen suchte, wovon wir gesprochen hätten.

»Ich ... ich bin mir darüber noch nicht ganz im klaren ... Zwei vorgefaßte Meinungen sind es, die die Menschen zurückhalten; zwei Dinge, nur zwei; ein sehr kleines und ein anderes sehr großes. Aber das kleine ist auch sehr groß.«

»Was ist denn das kleine?«

»Der Schmerz.«

»Der Schmerz? Ist denn das so wichtig ... in einem solchen Falle?«

»Das steht an erster Stelle. Es gibt zwei Arten von Selbstmördern: solche, die sich entweder aus großem Kummer[186] töten oder aus Ingrimm oder im Wahnsinn oder aus ähnlichem Grunde ... die tun es alle plötzlich. Die denken wenig an den Schmerz, sondern tun es plötzlich. Aber diejenigen, die es mit Überlegung tun, die denken viel darüber nach.«

»Aber gibt es denn solche, die es mit Überlegung tun?«

»Sehr viele. Wenn die vorgefaßte Meinung nicht da wäre, würden es noch mehr sein; sehr, sehr viele; alle.«

»Nun, nun! Wirklich alle?«

Er schwieg.

»Gibt es denn kein Mittel, um schmerzlos zu sterben?« fragte ich.

»Denken Sie sich,« erwiderte er, indem er vor mir stehen blieb, »denken Sie sich einen Stein von solcher Größe wie ein großes Haus; er hängt, und Sie befinden sich unter ihm; wenn er herunterfällt, Ihnen auf den Kopf, wird Ihnen das weh tun?«

»Ein hausgroßer Stein? Gewiß, das ist ja furchtbar.«

»Von der Furcht rede ich nicht; wird es weh tun?«

»Ein Stein wie ein Berg? Ein Stein, der Millionen Pud schwer ist? Selbstverständlich wird es nicht weh tun.«

»Aber obwohl Sie das einsehen, werden Sie doch, solange er hängt, sehr fürchten, daß es weh tun werde. Der größte Gelehrte, der klügste Mann, alle, alle werden sie das sehr fürchten.«

»Nun, und die zweite Ursache, die große?«

»Das Jenseits.«

»Das heißt: die Bestrafung?«

»Ganz egal; das Jenseits; nur das Jenseits.«[187]

»Gibt es nicht solche Atheisten, die überhaupt nicht an ein Jenseits glauben?«

Er schwieg wieder.

»Sie urteilen vielleicht nach sich?« fragte ich.

»Jeder kann nur nach sich urteilen,« sagte er errötend. »Die volle Freiheit wird dann da sein, wenn es dem Menschen ganz egal sein wird, ob er lebt oder nicht. Das ist das Ziel für die Gesamtheit.«

»Das Ziel? Aber dann wird vielleicht niemand mehr leben wollen?«

»Nein, niemand,« erwiderte er in entschiedenem Tone.

»Der Mensch fürchtet den Tod, weil er das Leben liebt; so fasse ich das auf,« bemerkte ich, »und so hat es die Natur gewollt.«

»Das ist gemein, und hierin steckt der Betrug!« Seine Augen funkelten. »Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Furcht, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt ist alles Schmerz und Furcht. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er den Schmerz und die Furcht liebt. Das Leben wird einem jetzt gegeben zum Zwecke des Schmerzes und der Furcht, und hierin steckt der ganze Betrug. Jetzt ist der Mensch noch nicht der richtige Mensch. Es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen Menschen. Wem es ganz egal sein wird, ob er lebt oder nicht, der wird ein neuer Mensch sein. Wer den Schmerz und die Furcht überwindet, der wird selbst ein Gott sein. Und jener Gott wird dann nicht sein.«

»Also existiert jener Gott doch nach Ihrer Ansicht?«

»Er existiert nicht; aber Er existiert. Der Stein bereitet keinen Schmerz; aber die Furcht vor dem Stein bereitet Schmerz. Gott ist der Schmerz der Todesfurcht.[188] Wer den Schmerz und die Furcht überwindet, der wird selbst ein Gott. Dann wird ein neues Leben sein und ein neuer Mensch; alles wird neu sein ... Dann wird man die Geschichte in zwei Teile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes und von der Vernichtung Gottes bis ...«

»Bis zum Gorilla?«

»... bis zur physischen Umgestaltung der Erde und bis zur physischen Umgestaltung des Menschen. Der Mensch wird ein Gott sein und wird sich physisch umgestalten. Auch die Welt wird sich umgestalten, und die Dinge werden sich umgestalten und die Gedanken und alle Empfindungen. Wie denken Sie darüber: wird sich dann der Mensch physisch umgestalten?«

»Wenn es den Menschen ganz egal sein wird, ob sie leben oder nicht, dann werden sich alle töten, und darin wird vielleicht die Umgestaltung bestehen.«

»Das ist ganz egal. Der Betrug wird getötet werden. Jeder, der die völlige Freiheit erlangen will, muß es wagen, sich zu töten. Wer es wagt, sich zu töten, der hat das Geheimnis des Betruges erkannt. Eine höhere Freiheit gibt es nicht; das ist alles, darüber hinaus gibt es nichts. Wer es wagt, sich zu töten, der ist ein Gott. Jetzt kann jeder bewirken, daß Gott nicht existiert und nichts existiert. Aber es hat es noch nie jemand getan.«

»Es hat doch Millionen von Selbstmördern gegeben.«

»Aber alle haben es nicht deswegen getan, alle mit Furcht und nicht zu diesem Zwecke. Nicht um die Furcht zu töten. Wer sich nur deswegen tötet, um die Furcht zu töten, der wird sogleich ein Gott werden.«[189]

»Er wird dazu vielleicht keine Zeit mehr haben,« bemerkte ich.

»Das ist ganz egal,« antwortete er leise mit ruhigem Stolze, beinah geringschätzig. »Es tut mir leid, daß Sie anscheinend sich darüber lustig machen,« fügte er nach einer halben Minute hinzu.

»Es kommt mir sonderbar vor, daß Sie vorhin so reizbar waren und jetzt mit solcher Ruhe, wenn auch mit großem Eifer reden.«

»Vorhin? Das war eine lächerliche Geschichte,« versetzte er lächelnd. »Ich streite nicht gern und lache niemals,« fügte er traurig hinzu.

»Ja, Sie verbringen Ihre Nächte beim Tee gewiß nicht fröhlich.«

Ich stand auf und griff nach meiner Mütze.

»Meinen Sie?« fragte er lächelnd und einigermaßen erstaunt. »Warum denn? Nein, ich ... ich weiß nicht« (er geriet auf einmal in Verwirrung), »ich weiß nicht, wie es bei andern ist; aber ich habe das Gefühl, daß ich nicht so kann wie jeder. Jeder denkt daran und denkt dann gleich wieder an etwas anderes. Ich kann an nichts anderes denken; ich denke das ganze Leben über nur an das Eine. Mich hat Gott das ganze Leben über gequält,« schloß er plötzlich mit erstaunlicher Mitteilsamkeit.

»Aber sagen Sie doch, wenn Sie die Frage gestatten, woher kommt es, daß Sie das Russische nicht korrekt sprechen? Haben Sie es wirklich im Auslande in den fünf Jahren verlernt?«

»Spreche ich es denn inkorrekt? Ich weiß es nicht. Nein, nicht deshalb weil ich im Auslande gewesen bin. Ich habe[190] mein ganzes Leben lang so gesprochen ... es ist mir ganz egal.«

»Noch eine delikatere Frage: ich glaube Ihnen vollkommen, daß Sie keine Neigung haben, mit Menschen zu verkehren, und daß Sie wenig mit Menschen reden. Warum haben Sie sich dann aber mit mir jetzt in ein Gespräch eingelassen?«

»Mit Ihnen? Sie haben vorhin so nett dabeigesessen, und Sie ... übrigens ist das ganz egal ... Sie haben eine große Ähnlichkeit mit meinem Bruder, eine sehr große, ganz außerordentliche,« sagte er errötend. »Er starb vor sieben Jahren; der älteste; eine sehr, sehr große.«

»Da hat er gewiß großen Einfluß auf Ihre Denkweise gehabt?«

»N-nein, er sprach wenig; er sagte nichts. Ich werde Ihren Zettel abgeben.«

Er begleitete mich mit einer Laterne zum Haustor, um hinter mir zuzuschließen.

»Selbstverständlich ein Verrückter!« sagte ich mir im stillen. Im Tore hatte ich ein neues Zusammentreffen.

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Die Teufel. Leipzig [1920], Band 1, S. 182-191.
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