II.

[14] Peter Stepanowitsch sprach auch bei seinem Vater zweimal vor, leider beidemal in meiner Abwesenheit. Das erstemal besuchte er ihn am Mittwoch, also am vierten Tage nach jener ersten Begegnung, und zwar geschäftlich. Beiläufig: die Abrechnung über das Gut wurde zwischen[14] ihnen ganz im stillen erledigt. Warwara Petrowna hatte alles auf sich genommen und alles bezahlt, natürlich in der Weise, daß sie das kleine Gut für sich erwarb; an Stepan Trofimowitsch hatte sie nur die Benachrichtigung geschickt, daß alles abgetan sei, und ihr Bevollmächtigter, der Kammerdiener Alexei Jegorowitsch, hatte ihm zum Unterschreiben ein Schriftstück vorgelegt, unter das er denn auch schweigend und mit großer Würde seinen Namen setzte. Anläßlich der Würde bemerke ich, daß ich unseren früheren lieben Alten in diesen Tagen kaum wiedererkannte. Er hielt sich wie nie zuvor, war erstaunlich schweigsam geworden, hatte vom Sonntag an keinen einzigen Brief an Warwara Petrowna geschrieben, was mir als ein Wunder erschien, und war vor allen Dingen ruhig. Was ihn stark und fest machte, war offenbar ein großer Gedanke, mit dem er endgültig ins reine gekommen war, und der ihm Ruhe verlieh. Diesen Gedanken hatte er gefunden, und nun saß er da und wartete auf etwas. Zu Anfang war er übrigens krank gewesen, namentlich am Montag; er hatte an Cholerine gelitten. Ohne Nachrichten konnte er es die ganze Zeit über nicht aushalten; aber kaum verließ ich die äußeren Tatsachen, ging zu dem eigentlichen Kern der Sache über und sprach irgendwelche Vermutungen aus, so winkte er sofort ab, ich möchte aufhören. Aber die beiden Begegnungen mit seinem Sohne übten, wenn sie auch seine Haltung nicht erschütterten, doch auf ihn eine schmerzliche Wirkung aus. An den betreffenden beiden Tagen lag er nach dem Beisammensein auf dem Sofa, ein mit Essig angefeuchtetes Tuch um den Kopf geschlagen; aber er blieb im höchsten Grade ruhig.[15]

Manchmal kam es übrigens auch vor, daß er mir nicht abwinkte. Auch schien es mir manchmal, als ob seine gewöhnliche geheimnisvolle Entschlossenheit ihn verließe und er mit einer neuen verführerischen Idee zu kämpfen beginne. Das war nur in einzelnen Augenblicken der Fall; aber ich bemerkte diese. Ich vermutete, daß er große Lust hatte, sich wieder unter Menschen blicken zu lassen, seine Einsamkeit aufzugeben, seinen Gegnern einen Kampf anzubieten, die letzte Schlacht zu liefern.

»Cher, ich möchte diese Menschen zerschmettern!« entfuhr es ihm am Donnerstagabend nach Peter Stepanowitschs zweitem Besuche, als er, den Kopf mit einem Handtuch umwickelt, ausgestreckt auf dem Sofa lag.

Bis zu diesem Augenblicke hatte er den ganzen Tag über noch kein Wort mit mir gesprochen.

»›Fils, fils chéri‹ und so weiter, nun ja, ich gebe zu, daß all diese Ausdrücke dummes Zeug sind, ein phrasenhafter Jargon; ich sehe das jetzt selbst ein. Ich habe ihn nicht genährt und getränkt, sondern ihn von Berlin als Säugling mit der Post nach dem Gouvernement O*** geschickt, nun ja, und so weiter, ich gebe es zu ... ›Du hast mich nicht genährt‹, sagte er, ›und hast mich mit der Post weggeschickt, und hier hast du mich noch obendrein ausgeplündert.‹ ›Aber Unglücklicher,‹ rief ich ihm zu, ›um dich hat mir ja mein Herz das ganze Leben lang weh getan, wenn ich dich auch mit der Post weggeschickt habe!‹ Il rit. Aber ich gebe es zu, ich gebe es zu ... das mit der Post hat seine Richtigkeit,« schloß er, als ob er im Fieber redete.

»Passons!« fing er nach fünf Minuten von neuem[16] an. »Ich verstehe Turgenjew nicht. Sein Basarow1 ist eine Phantasiegestalt, die gar nicht existiert; die Neuen sind ja die ersten gewesen, die sie damals als unmöglich ablehnten. Dieser Basarow ist eine Art von unklarer Mischung eines Nosdrew2 mit Byron, c'est le mot! Betrachten Sie einmal diese Neuen aufmerksam: sie wälzen sich herum und winseln vor Freude wie junge Hunde in der Sonne; sie sind glücklich; sie sind die Sieger! Wo bleibt da die Ähnlichkeit mit Byron? ... Und dabei welche gewöhnliche Alltäglichkeit! Welch eine plebejische Empfindlichkeit der Eigenliebe, welch eine unwürdige Begierde de faire du bruit autour de son nom, ohne zu bemerken, daß son nom ... Oh, welch eine Karikatur! ›Aber ich bitte dich,‹ rief ich ihm zu, ›willst du dich denn wirklich so, wie du bist, den Menschen als Ersatz für Christus anbieten?‹ Il rit. Il rit beaucoup. Il rit trop. Er hat eine seltsame Art zu lächeln. Seine Mutter hatte dieses Lächeln nicht. Il rit toujours.«

Es trat wieder Stillschweigen ein.

»Sie sind schlau; sie hatten sich am Sonntag verabredet ...« sagte er plötzlich unbedachtsamerweise.

»Oh, ohne Zweifel!« rief ich und spitzte die Ohren. »Es war alles ein abgekartetes Spiel, das sie noch dazu herzlich schlecht durchführten.«

»Ich meine etwas anderes. Wissen Sie wohl, daß sie absichtlich so plump spielten, damit es diejenigen merkten, die es nach ihrer Absicht merken sollten? Verstehen Sie das?«

»Nein, das verstehe ich nicht.«

»Tant mieux. Passons! Ich bin heute sehr nervös.«[17]

»Aber warum haben Sie sich denn mit ihm gestritten, Stepan Trofimowitsch?« fragte ich vorwurfsvoll.

»Je voulais convertir. Lachen Sie meinetwegen! Cette pauvre tante, elle etendra de belles choses! O mein Freund, können Sie es glauben, daß ich mich vorhin als Patrioten gefühlt habe? Übrigens bin ich mir von jeher bewußt gewesen, daß ich ein Russe bin ... und ein echter Russe kann auch nicht von anderer Art sein als ich und Sie. Il y a là dedans quelque chose d'aveugle et de louche.«

»Zweifellos,« antwortete ich.

»Mein Freund, die echte Wahrheit ist immer unwahrscheinlich; wissen Sie das? Um die Wahrheit wahrscheinlicher zu machen, muß man ihr unbedingt etwas Unwahrheit beimischen. So haben es die Menschen auch von jeher gemacht. Vielleicht ist hier etwas, was wir nicht verstehen. Was meinen Sie, ist hier etwas, was wir in diesem Siegesgekreisch nicht verstehen? Ich möchte wünschen, daß dem so wäre. Das möchte ich wünschen.«

Ich schwieg. Er schwieg ebenfalls sehr lange.

»Manche sagen, das Gerede von dem französischen Verstande«, begann er auf einmal wie im Fieber, »sei eine Unwahrheit und sei immer eine Unwahrheit gewesen. Warum verleumden sie den französischen Verstand? Hier ist weiter nichts zu finden als russische Faulheit, unsere unwürdige Unfähigkeit, einen Gedanken zu produzieren, unser häßliches Parasitentum unter den Völkern. Ils sont tout simplement des paresseux; aber französischen Verstand haben sie nicht. Ah, die Russen müßten zum Besten der Menschheit wie schädliche Parasiten ausgerottet werden! Wir Älteren,[18] wir haben nach ganz, ganz anderen Dingen gestrebt; ich verstehe nichts, ich verstehe nichts mehr! ›Begreifst du wohl,‹ rief ich ihm zu, ›begreifst du, daß, wenn ihr die Guillotine mit solchem Entzücken in den Vordergrund stellt, ihr das einzig deswegen tut, weil es das Allerleichteste ist, Köpfe abzuschlagen, und das Allerschwerste, einen Gedanken zu haben? Vous êtes des paresseux! Votre drapeau est une guenille, une impuissance.‹ Diese Bauernwagen, oder wie es da heißt: ›Das Rattern der Bauernwagen, die der Menschheit Getreide zuführen,‹ das soll nützlicher sein als die Sixtinische Madonna, oder wie es bei ihnen heißt ... ›une bêtise dans ce genre. Aber begreifst du wohl,‹ rief ich ihm zu, ›begreifst du wohl, daß der Mensch das Unglück ebenso notwendig braucht wie das Glück?‹ Il rit. ›Du läßt hier Bonmots los,‹ sagte er, ›während du es deinen Gliedern‹ (er drückte sich derber aus) ›auf einem Samtsofa bequem machst ...‹ Und beachten Sie dies: unsere Gewöhnung, daß sich Vater und Sohn gegenseitig duzen, ist ja sehr schön, wenn beide übereinstimmen; aber wie, wenn sie sich zanken?«

Wir schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.

»Cher,« schloß er dann plötzlich, indem er sich schnell erhob, »wissen Sie wohl auch, daß dies unfehlbar mit etwas enden wird?«

»Nun, natürlich!« erwiderte ich.

»Vous ne comprenez pas. Passons! Aber ... gewöhnlich enden die Dinge auf der Welt mit nichts; aber hier wird ein Ende vorhanden sein, unfehlbar, unfehlbar!«

Er stand auf, ging in stärkster Aufregung durch das Zimmer, und als er wieder zum Sofa kam, ließ er sich kraftlos darauf niedersinken.[19]

Am Freitagmorgen fuhr Peter Stepanowitsch irgendwohin in unserm Kreise und blieb bis zum Montag fort. Von seiner Abreise erfuhr ich durch Liputin, und gleichzeitig erfuhr ich von ihm wie gesprächsweise, daß die Lebjadkins, Bruder und Schwester, beide irgendwo jenseits des Flusses in der Töpfervorstadt wohnten. »Ich habe sie selbst hinübergebracht,« fügte Liputin hinzu, und von Lebjadkins abbrechend, benachrichtigte er mich plötzlich, daß Lisaweta Nikolajewna sich mit Mawriki Nikolajewitsch verheiraten werde, und wenn das auch nicht publiziert sei, so habe doch die Verlobung stattgefunden und die Sache sei perfekt. Am andern Tage traf ich Lisaweta Nikolajewna, die in Begleitung Mawriki Nikolajewitschs zum erstenmal nach ihrer Krankheit ausritt. Sie blitzte mich von weitem mit ihren Augen an, lachte und nickte mir sehr freundschaftlich zu. All dies erzählte ich Stepan Trofimowitsch; aber er schenkte nur der Nachricht über Lebjadkins einige Aufmerksamkeit.

Nachdem ich so unsere rätselhafte Lage während der acht Tage, wo wir noch nichts wußten, geschildert habe, will ich jetzt an die Erzählung der folgenden Ereignisse gehen, und zwar sozusagen schon mit Kenntnis des ganzen Sachverhaltes, wie er sich jetzt enthüllt und herausgestellt hat. Ich beginne mit dem achten Tage nach jenem Sonntage, das heißt mit Montagabend; denn mit diesem Abend beginnt in Wirklichkeit eine neue Geschichte.

Fußnoten

1 In dem Roman »Väter und Söhne«.

Anmerkung des Übersetzers.


2 In Gogols Roman »Tote Seelen«.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Die Teufel. Leipzig [1920], Band 2, S. 14-20.
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