I

[5] Anfang Juli, in der heißesten Jahreszeit, am Spätnachmittag trat ein junger Mann aus seiner Kammer, die er als Aftermieter in der S-schen Gasse bewohnte, auf die Straße und begab sich langsam, gleichsam unentschlossen zu der K–schen Brücke.

Es gelang ihm, eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe zu vermeiden. Seine Kammer befand sich dicht unter dem Dache eines hohen, vierstöckigen Hauses und sah mehr einem Schrank als einer Wohnung ähnlich. Seine Wirtin aber, bei der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung mietete, hauste eine Treppe tiefer in eigener Wohnung, und wenn er ausging, mußte er jedesmal an der Küche der Wirtin mit der immer weit offenstehenden Tür vorbeikommen. Jedesmal, wenn der junge Mann an der Küche vorbeiging, überkam ihn ein krankhaftes, feiges Gefühl, dessen er sich schämte und vor dem er das Gesicht verzog. Er schuldete seiner Wirtin viel Geld und fürchtete, ihr zu begegnen.

Er war gar nicht so feige und eingeschüchtert, sogar im Gegenteil; doch seit einiger Zeit befand er sich in einem Zustande von Reizbarkeit und Spannung, der an Hypochondrie erinnerte. Er hatte sich dermaßen in sich selbst vertieft und von allen Menschen zurückgezogen, daß er jede Begegnung, nicht nur die mit seiner Wirtin, fürchtete. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese bedrängte Lage machte ihm in der letzten Zeit wenig Schmerzen. Seinem Tagewerk ging er in der letzten Zeit nicht mehr nach und wollte ihm auch gar nicht nachgehen. Im Grunde hatte er vor keiner Wirtin Angst, was sie gegen ihn auch im Schilde[5] führen mochte. Doch auf der Treppe stehen zu bleiben, jedes Geschwätz über diese alltäglichen Kleinlichkeiten, um die er sich absolut nicht kümmerte, alle diese zudringlichen Vorstellungen wegen der Bezahlung, die Drohungen und Klagen anzuhören und sich dabei selbst herauszuwinden, zu entschuldigen und zu lügen – nein, es ist schon besser, wie eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und, von niemand gesehen, zu verschwinden.

Diesmal mußte er übrigens selbst, als er schon auf der Straße war, über seine Angst vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin staunen.

»So eine Sache will ich unternehmen und habe dabei Angst vor solchem Unsinn!« sagte er sich mit einem seltsamen Lächeln. »Hm ... ja ... alles hat der Mensch in seiner Hand, und alles läßt er sich entgehen aus bloßer Feigheit ... das ist ein Axiom ... Es ist interessant, was die Menschen mehr als alles fürchten! Einen neuen Schritt, ihr eigenes neues Wort fürchten sie am meisten ... Übrigens schwatze ich zu viel. Darum tue ich auch nichts, weil ich nur schwatze. Vielleicht ist es auch so: ich schwatze, weil ich nichts tue. Dieses Schwatzen habe ich mir im letzten Monat angewöhnt, als ich tagelang in meinem Loche lag und an ... des Kaisers Bart dachte. Nun, warum gehe ich jetzt? Bin ich denn dazu fähig? Ist denn das ernst gemeint? Gar nicht ernst. Eine Phantasie, um mich selbst zu unterhalten; Spielerei? Ja, vielleicht, es ist wirklich nur eine Spielerei!«

Draußen war es furchtbar heiß, dazu auch schwül; ein Gedränge; überall Kalk, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener eigentümliche sommerliche Gestank, welchen jeder Petersburger kennt, der nicht in der Lage ist, aufs Land zu gehen, – dies alles erschütterte auf einmal die auch ohnehin schon zerrütteten Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Gestank, der aus den Kneipen drang, die in diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und die vielen Betrunkenen, denen er, obwohl es ein Wochentag war, auf[6] Schritt und Tritt begegnete, vervollständigten das abstoßende, traurige Bild. Über die feinen Gesichtszüge des jungen Mannes glitt der Ausdruck eines tiefen Ekels. Übrigens war er ungewöhnlich hübsch, über das Mittelmaß groß, schlank und geschmeidig und hatte schöne dunkle Augen und dunkelblondes Haar. Bald versank er in tiefe Nachdenklichkeit, eigentlich sogar in eine Ohnmacht, und bemerkte im Gehen nichts von allem, was ihn umgab, und wollte es auch gar nicht bemerken. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin: das kam von seiner Angewohnheit, Monologe zu halten, wie er es sich eben selbst eingestanden hatte. Zugleich war er sich auch dessen bewußt, daß seine Gedanken zuweilen durcheinandergerieten und daß er sehr schwach war: seit zwei Tagen schon hatte er fast nichts gegessen.

Seine Kleidung war so zerfetzt, daß auch mancher an alles gewöhnte Mensch sich genieren würde, in diesem Aufzuge bei Tage auf die Straße zu treten. In diesem Stadtteile konnte man übrigens kaum jemand durch solche Kleidung verblüffen. Die Nähe des Heumarktes, die Menge von gewissen Lokalen und die in diesen Straßen und Gassen im Zentrum Petersburgs zusammengedrängte dichte Handwerker- und Arbeiterbevölkerung belebten zuweilen das Straßenbild mit solchen Subjekten, daß es sogar sonderbar wäre, über manche Figur zu staunen. In der Seele des jungen Mannes hatte sich aber schon so viel boshafte Verachtung aufgespeichert, daß er sich, trotz seiner zuweilen noch sehr jugendlichen Empfindlichkeit, seiner zerlumpten Kleidung am allerwenigsten schämte. Anders war es bei den Begegnungen mit manchen seiner Bekannten oder mit seinen früheren Kollegen, denen er überhaupt sehr ungern begegnete ... Als aber ein Betrunkener, den man gerade, Gott weiß warum und wohin, in einem großen, leeren, mit einem riesenhaften Lastpferd bespannten Leiterwagen vorüberführte, ihm plötzlich zurief: »He, du Deutscher mit dem Hute!« und, auf ihn mit der Hand weisend, aus vollem Halse zu schreien begann, blieb[7] der junge Mann plötzlich stehen und griff krampfhaft nach seinem Hut. Es war ein hoher, runder Zimmermannscher Hut, vollkommen abgetragen, ganz rot vor Alter, voller Löcher und Flecken, ohne Krempe und mit einem häßlichen Knick auf einer Seite. Es war aber keine Scham, was er empfand, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sogar an Schreck grenzte.

»Das wußte ich ja!« murmelte er verlegen: »Das dachte ich mir auch! Das ist schon das Allerschlimmste! So eine Dummheit, so eine ganz gemeine Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist viel zu auffallend ... Er ist lächerlich und darum auffallend ... Zu meinen Lumpen gehört unbedingt eine Mütze, und wenn auch so flach wie ein Pfannkuchen, und nicht dieses Scheusal. Kein Mensch trägt so einen Hut, man wird ihn schon aus einer Entfernung von einer Werst sehen und sich merken ... man wird ihn sich merken, und da hat man schon ein Indizium. Man muß dabei möglichst wenig auffallen ... Kleinigkeiten, solche Kleinigkeiten sind das Wichtigste! ... Solche Kleinigkeiten richten jedes Unternehmen zugrunde ...«

Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es vom Tore seines Hauses waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er ganz im Banne seiner Träume war. Damals wollte er noch selbst nicht an diese seine Träume glauben und stachelte sich nur durch ihre häßliche, doch verführerische Kühnheit auf. Doch jetzt, nach einem Monat sah er die Dinge anders an und hatte sich, trotz aller aufstachelnden Monologe über seine eigene Ohnmacht und Unentschlossenheit, schon gewöhnt, seinen »häßlichen« Traum für ein wirkliches Unternehmen zu halten, obwohl er sich auch noch nicht recht traute. Er ging jetzt sogar, eine Probe seines Unternehmens zu machen, und seine Erregung wuchs mit jedem Schritt.

Mit ersterbendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem riesengroßen Hause, das mit der einen Seite[8] auf den Kanal und mit der andern auf die *sche Straße hinausging. Dieses Haus bestand aus lauter kleinen Wohnungen und war von allerlei Gewerbetreibenden, Schneidern, Schlossern, Köchinnen, deutschen Handwerkern, alleinstehenden Mädchen, kleinen Beamten usw. bewohnt. Die Aus- und Eingehenden huschten nur so durch die beiden Torwege und die beiden Höfe. Drei oder vier Hausknechte versahen hier den Dienst. Der junge Mann war sehr froh, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte sofort direkt aus dem Torwege unbemerkt die Treppe nach rechts hinauf. Die Treppe war finster und eng, eine richtige »Hintertreppe«, doch er kannte sie schon, hatte alles genau studiert, und die Örtlichkeit gefiel ihm nicht schlecht; in dieser Dunkelheit würde ihm auch ein neugieriges Auge ungefährlich sein. – Wenn ich schon jetzt so fürchte, wie wird es dann werden, wenn ich mal vor der Sache selbst stehe? – dachte er sich unwillkürlich, als er den dritten Stock erreichte. Hier versperrten ihm einige Träger – verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen, den Weg. Er wußte schon von früher, daß in dieser Wohnung ein deutscher Beamter mit Familie wohnte: – Dieser Deutsche zieht aus, also bleibt im dritten Stock für einige Zeit nur die Wohnung der Alten allein bewohnt. Das ist gut ... für jeden Fall ... – dachte er sich wieder und läutete bei der Alten an. Die Glocke klimperte schwach, als sei sie aus Blech und nicht aus Kupfer gemacht. In ähnlichen kleinen Wohnungen in Häusern dieser Art sind fast immer solche Glocken. Er hatte den Klang dieser Glocke schon fast vergessen, und nun brachte ihm dieses eigentümliche Klimpern etwas in Erinnerung, gab ihm eine klare Vorstellung von etwas ... Er fuhr zusammen – seine Nerven waren diesmal gar zu schwach. Etwas später ging die Tür ein klein wenig auf: die Bewohnerin blickte den Besucher durch den ganz schmalen Spalt mit sichtbarem Argwohn an, und man sah aus dem Dunkeln nur ihre Augen hervorleuchten. Da sie aber draußen auf der Treppe viele Leute[9] gewahrte, faßte sie Mut und machte die Tür ganz auf. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand geteilt war; dahinter befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm da und sah ihn fragend an. Es war eine sehr kleine, ausgemergelte alte Frau von etwa sechzig Jahren, mit stechenden, bösen Augen, kleiner spitzer Nase und bloßem Kopf. Ihre semmelblonden, nur wenig ergrauten Haare waren ausgiebig mit Öl eingefettet. Um ihren dünnen, langen Hals, der an ein Hühnerbein erinnerte, hatte sie allerlei Flanell-Lumpen gewickelt, und über ihre Schultern hing, trotz der Hitze, eine zerfetzte und vergilbte Pelzjacke. Die Alte ächzte und hustete jeden Augenblick. Der junge Mann hatte sie wohl irgendwie eigentümlich angeblickt, denn in ihren Augen erschien wieder der frühere Argwohn.

»Ich bin der Student Raskolnikow, war schon einmal bei Ihnen vor einem Monat«, beeilte sich der junge Mann mit einer halben Verbeugung zu stammeln: es fiel ihm ein, daß er freundlicher sein müsse.

»Ich weiß noch, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie hier waren«, sagte die Alte, jedes Wort betonend, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesicht zu wenden.

»Also, heute ... komme ich wieder in einer ähnlichen Sache ...« fuhr Raskolnikow fort, ein wenig verlegen und über das Mißtrauen der Alten erstaunt.

– Vielleicht ist sie übrigens immer so, und ich habe es damals nur nicht bemerkt – sagte er sich mit einem unbehaglichen Gefühl.

Die Alte schwieg eine Weile, wie nachdenklich, trat dann zur Seite, zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer und sagte, indem sie dem Gast den Vorantritt ließ:

»Treten Sie nur ein, Väterchen.«

Das kleine Zimmer, mit den gelben Tapeten, Geranien und Mullvorhängen an den Fenstern, in das der junge Mann kam, war in diesem Augenblick grell von der untergehenden Sonne erleuchtet. – Also wird die Sonne auch dann[10] ebenso leuchten! – ging es Raskolnikow unwillkürlich durch den Kopf, und er überflog mit einem schnellen Blick das ganze Zimmer, um alles zu studieren und sich nach Möglichkeit zu merken. Aber im Zimmer gab es nichts Besonderes. Die sehr alten Möbel aus gelbem Holz bestanden aus einem Sofa mit sehr großer, geschwungener hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tisch vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel zwischen den Fenstern, mehreren Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen gelbgerahmten Bildern, die deutsche junge Mädchen mit Vögeln in den Händen darstellten, – das war das ganze Meublement. In einer Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, die Möbel und der Fußboden waren sehr blank gescheuert; alles glänzte. – Das ist wohl Lisawetas Arbeit – dachte sich der junge Mann. Kein Stäubchen war in der ganzen Wohnung zu finden. – Bei bösen und alten Witwen pflegt es so rein zu sein – dachte Raskolnikow weiter und schielte neugierig nach dem Kattunvorhang vor der Tür zum zweiten winzigen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen und in das er noch niemals hineingeblickt hatte. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern.

»Was wünschen Sie?« sagte die Alte streng, als sie ins Zimmer trat und sich wieder gerade vor ihn hinstellte, um ihm ins Gesicht zu blicken.

»Ich habe ein Pfand mitgebracht, hier!« Und er zog aus der Tasche eine alte flache silberne Uhr. Auf der Rückseite war ein Globus dargestellt. Die Kette war aus Stahl.

»Der Termin für das letzte Pfand ist schon um. Vorgestern ist gerade der Monat abgelaufen.«

»Ich will Ihnen die Zinsen für den zweiten Monat bezahlen, gedulden Sie sich noch ein wenig.«

»Es ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Pfand jetzt gleich zu verkaufen.«

»Wieviel geben Sie mir für die Uhr, Aljona Iwanowna?«[11]

»Immer bringst du mir solche Kleinigkeiten, Väterchen, die Uhr ist fast nichts wert. Für den Ring habe ich Ihnen das letzte Mal zwei Rubelscheine gegeben, aber man kann einen solchen bei einem Juwelier für anderthalb Rubel kaufen.«

»Geben Sie mir doch vier Rubel, ich werde sie einlösen, die Uhr habe ich vom Vater. Ich bekomme bald Geld.«

»Anderthalb Rubel und die Zinsen im voraus, wenn Sie wollen.«

»Anderthalb Rubel!« schrie der junge Mann auf.

»Wie Sie wollen.« Und die Alte reichte ihm seine Uhr. Der junge Mann nahm sie und wurde so böse, daß er gleich weggehen wollte; er überlegte sich aber gleich, daß er sonst nirgends hingehen konnte und daß er auch noch aus einem anderen Grunde gekommen war.

»Geben Sie's her!« sagte er grob.

Die Alte steckte die Hand in die Tasche nach den Schlüsseln und ging ins andere Zimmer hinter den Vorhang. Als der junge Mann mitten im Zimmer allein geblieben war, lauschte er neugierig und überlegte. Er hörte, wie sie die Kommode aufschloß. – Wahrscheinlich ist es die oberste Schublade – überlegte er sich. – Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche ... Alle Schlüssel sind an einem Stahlring vereinigt ... Darunter ist ein Schlüssel, der dreimal so groß ist als die anderen, mit einem zackigen Bart, – der ist natürlich nicht von der Kommode ... Also hat sie noch irgendeine Schatulle oder Truhe ... Das ist sehr interessant. Truhen haben oft solche Schlüssel ... Übrigens, wie gemein ist dies alles ...

Die Alte kam zurück.

»Hier, Väterchen: wenn ich Ihnen zehn Kopeken pro Rubel im Monat berechne, so schulden Sie mir für die anderthalb Rubel fünfzehn Kopeken für den Monat im voraus. Für die zwei früheren Rubel schulden Sie mir nach der gleichen Rechnung zwanzig Kopeken im voraus. Im ganzen also fünfunddreißig. Für Ihre Uhr bekommen Sie jetzt im ganzen einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Hier ist das Geld.«[12]

»Wie! Ich bekomme also nur einen Rubel und fünfzehn Kopeken?«

»Sehr richtig!«

Der junge Mann wollte nicht streiten und nahm das Geld. Er blickte die Alte an und beeilte sich nicht, wegzugehen, als wollte er noch irgend etwas sagen oder tun; doch was, – das wußte er anscheinend selbst nicht ...

»Vielleicht bringe ich Ihnen, Aljona Iwanowna, noch einen Gegenstand ... einen silbernen ... einen guten ... ein Zigarettenetui ... sobald ich es von einem Freunde zurückbekomme ...« Er wurde verlegen und verstummte.

»Nun, dann werden wir darüber reden, Väterchen.«

»Leben Sie wohl ... Sie sitzen aber immer allein zu Hause, Ihre Schwester ist nicht da?« fragte er so ungezwungen, wie er nur konnte, während er ins Vorzimmer trat.

»Was geht sie Sie an, Väterchen?«

»Es ist nichts Besonderes, ich habe nur so gefragt. Sie aber machen sich gleich Gedanken ... Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!«

Raskolnikow verließ ihre Wohnung völlig verwirrt. Seine Verwirrung wurde immer größer. Während er die Treppe hinunterging, blieb er sogar einigemal wie durch etwas erschüttert stehen. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus:

»Mein Gott! Wie abscheulich! Und werde ich denn, werde ich denn ... nein, eine Unmöglichkeit!« fügte er entschlossen hinzu. »Konnte mir denn so ein Wahnsinn einfallen? Zu welchem Schmutz ist aber mein Herz fähig! Vor allen Dingen ist es schmutzig, ekelhaft, häßlich, häßlich! ... Und ich habe einen ganzen Monat ...«

Er konnte aber seine Erregung weder durch Worte noch durch Ausrufe ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Ekels, das sein Herz, schon als er zu der Alten ging, zu bedrücken und zu trüben angefangen hatte, erreichte jetzt ein solches Maß und kam ihm so deutlich zum Bewußtsein, daß er gar nicht wußte, wohin sich vor dieser Qual zu retten. Er[13] ging über das Trottoir wie ein Betrunkener, ohne die Vorübergehenden zu bemerken, zuweilen mit ihnen zusammenstoßend, und kam erst in der nächsten Straße zur Besinnung. Er sah sich um und stellte fest, daß er sich vor einer Schenke befand, zu der vom Trottoir eine Treppe wie in einen Keller führte. Aus der Tür traten eben zwei Betrunkene; sich gegenseitig stützend und beschimpfend, traten sie auf die Straße. Ohne lange nachzudenken, stieg Raskolnikow schnell hinab. Bisher war er noch nie in einer Schenke gewesen, doch jetzt schwindelte ihm der Kopf, und ein brennender Durst peinigte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr, als er seine plötzliche Schwäche damit erklärte, daß er nichts im Magen hatte. Er setzte sich in eine dunkle und schmutzige Ecke, an einen klebrigen Tisch, ließ sich Bier geben und trank mit Gier das erste Glas. Sofort fühlte er eine Erleichterung, und seine Gedanken klärten sich. – Das alles ist Unsinn – sagte er sich voller Zuversicht –, und ich brauche nicht den Mut zu verlieren! Es ist einfach eine körperliche Zerrüttung. Ein einziges Glas Bier, ein Stück Zwieback, – und im Nu ist der Geist wieder stark, die Gedanken sind klar und die Absichten bestimmt! Pfui, wie nichtig und lächerlich ist doch das alles! ... Aber trotz dieses verächtlichen Ausspuckens sah er schon so lustig aus, als hätte er sich plötzlich von einer fürchterlichen Last befreit, und blickte die Anwesenden wohlwollend an. Doch selbst in diesem Augenblick hatte er das dunkle Gefühl, daß auch diese Empfänglichkeit für das Bessere krankhaft sei.

In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen versammelt. Nach den beiden Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte eine ganze Gesellschaft von fünf Mann mit einer Dirne und einer Ziehharmonika die Schenke verlassen. Als sie gegangen waren, wurde es gleich still und geräumig. Es waren noch geblieben: ein etwas angeheiterter Mann, der hinter einer Flasche Bier saß, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; sein Freund, ein dicker,[14] großer Mann, in einem langen Überrock, mit grauem Bart, der ordentlich betrunken war, auf einer Bank duselte und ab und zu plötzlich wie im Schlafe mit den Fingern zu schnalzen anfing, wobei er die Arme spreizte, mit dem Oberkörper, ohne von der Bank aufzustehen, wackelte und dazu irgendeinen Unsinn sang, wobei er sich auf den Text zu besinnen versuchte, der beiläufig so lautete:


»Hab ein Jahr mein Weib geliebt,

Ha-ab ein Ja-ahr mein Weib geliebt ...«


Oder er erwachte plötzlich und begann:


»Durch die Stadt bin ich gegangen.

Hab die erste eingefangen ...«


Niemand teilte aber sein Glück; sein schweigsamer Freund sah allen diesen Ausdrücken sogar feindselig und argwöhnisch zu. Es war noch ein Mann da, der wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Er saß abseits allein vor seiner Flasche, trank ab und zu einen Schluck und blickte um sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein.

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Verbrechen und Strafe. Potsdam 1924, S. 5-15.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Verbrechen und Strafe: (Schuld und Sühne)

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon