21.

[245] O Meer, du bist das ewig zaubervolle,

Das ewig schöne und das ewig wahre,

Die große Wiege und die Totenbahre.

Vor deiner Milde wie vor deinem Grolle,[245]

Vor deinem Hauch verstummt des Sängers Leier.

Du bist der Anfang und das letzte Wort,

Der Menschheit Schrecken und ihr bester Hort,

Ihr Tröster, ihr Ernährer, ihr Befreier.

Entzückend ist dein Lächeln und gewaltig

Dein tiefer Atemzug. Mit Salzkrystallen

Hinschäumend über zackige Korallen

Und immer Leben sprühend, tausendfaltig;

Eisberge rollend, Lotusinseln pflegend,

Stolze Fregatten, Handelsflotten schaukelnd,

Bald Falten werfend, bald im Lichte gaukelnd

Und eine Welt von Kreaturen hegend

In deinem Schoße; Nordlands kahle Dünen

Bespülend, Fichtenwälder, schneebekränzt,

Und drüben, wo die Tropensonne glänzt,

Die Palmen, die geliebten, immergrünen,

Die schlanken Palmen küssend, ihre Kronen

Berührend und ihr Flüstern weitertragend –

Glorreiches Meer! befruchtend, jauchzend, klagend,

So flutest du dahin durch alle Zonen,

Unendlich, unerschöpflich, unbezwungen,

Entfesselt, ohne Ruhe, ewig drängend,

Und doch, wie eine Thräne, lichtdurchdrungen

Dich an den dunkeln Saum der Wolken hängend,

Oft freudestrahlend, oft in stiller Trauer –

Du hast der Menschen Heimat eng umschlossen.

Du hast in unsrer Mutter Brust gegossen[246]

Des Lebens Odem, der Vernichtung Schauer;

Mich aber hast du über Raum und Zeit

Erhoben und mein Herz zu tausendmalen

Befreit von Zweifeln und von Todesqualen,

Befreit von Trübsal und Zerrissenheit.

Ich danke dir – dir, dem ich lebenskrank

Von meinem Leid erzählt, dem winzig kleinen.

Du stilltest meine Schmerzen mit den deinen –

Nochmals den großen Wassern meinen Dank!

Quelle:
Ludwig Ferdinand Schmid: Dranmor’s Gesammelte Dichtungen, Frauenfeld 41900, S. 245-247.
Lizenz:
Kategorien: