Als der Herr in Sidons Land gekommen

[714] Als der Herr in Sidons Land gekommen,

Naht ein kananäisch Weiblein sich.

»Herr!« spricht sie in Demut und in Frommen,

»Herr! erbarme meiner Tochter dich.

Sieh, sie liegt daheim in großen Peinen,

Denn es wohnt in ihr ein böser Geist.«

Und voll Trauer hebt sie an zu weinen,

Als der Herr sie strenge von sich weist.


Doch sie schaut in seiner Augen Prachten,

Und ihr treues Herz bleibt ungeschreckt,

Einem Hündlein gleich will sie sich achten,

Das die Krümlein von der Erde leckt,

Ihre Demut hat sich durchgerungen:

»Weib, dein Glaub' hat dir geholfen,« spricht

Jesu süße Stimme, und bezwungen

Weicht der finstre Geist dem Gnadenlicht.


Kann nur Demut uns den Segen bringen,

Und ich schnöder Wurm der Sterblichkeit

Meine noch, es müsse mir gelingen,

Da ich von der Demut noch so weit?

Hab' ich nur ein kleines Leid getragen,

Einen Heller meiner großen Schuld,

Fühl' ich schon ein leises Wohlbehagen

Über meine Stärke und Geduld.


Seele mein, hast du denn ganz vergessen

Deiner Sünden, dunkel wie die Nacht,

Hast den Quell im Sande stolz gemessen,

Und der weiten Wüste nicht gedacht?

Ach, wie täuschte dich die Eigenliebe

Über dein Beginnen sonder Treu,[714]

Eine Mücke fängst du auf im Siebe,

Das Kamel verschlingst du sonder Scheu.


Denkst wohl gar Verdienste zu gewinnen,

Wähnst um dich der Siegespalmen Grün,

Ach, was du auch immer magst beginnen,

Deiner Kräfte äußerstes Bemühn,

Könntest tausend Jahr dem Herrn du dienen,

In Zerknirschung büßend fort und fort,

Deine Frevel kannst du nimmer sühnen,

Gnade bleibt dein einz'ges Hoffnungswort.


Und wie wenig hast du nicht gelitten

In der Reue bittrer Läutrungsglut,

Und wie lau und schwächlich nicht gestritten

Gegen deiner innern Feinde Wut!

Kannst du eine Viertelstunde nennen,

Wo du ganz und gar dem Herrn gehört,

Keine Wünsche dich von Jesu trennen,

Kein Gedanke dein Gebet gestört?


Ach, mit jedem meiner Seufzer treten

Neue Sünden vor dein Angesicht.

Herr, ich bin nicht wert, zu dir zu beten,

Schone mein, du starker Gott im Licht.

O! mich faßt ein ungeheurer Schrecken,

Daß ich so vermessen mich erkühnt,

Weh, mein ganzes Leben ist ein Flecken,

Jede Stunde hat den Tod verdient.


Dennoch, dennoch darfst du nicht verzagen,

Nicht in deines tiefsten Elends Drang,

Mußt die Schmerzen grimm, die in dir nagen,

Fesseln mit der Hoffnung süßem Zwang.

Jesus will es, und du mußt vollbringen,

Ob dich seine Milde fast zerdrückt,

Darfst nicht trotzend in Verzweiflung ringen,

Wie der eigne Wille dich berückt.
[715]

Wie der Pharus an dem Seegestade

Frieden leuchtet durch der Stürme Wut,

Strahlt so mildiglich das Kreuz der Gnade,

Drum nur Mut, bedrängte Seele, Mut!

Halte fest in Demut und Vertrauen

Seele mein, mit deiner ganzen Macht,

Siehe, wie fünf rote Sonnen schauen

Jesu Wunden durch die wüste Nacht.


Und wie einst die Arche trug das Leben

Durch der Sünde allgemeinen Tod,

Wird das süße Kreuz mich rettend heben,

Wenn entsetzlich das Verderben droht.

Ja, ich will auf Jesu Worte bauen,

Seh ich gleich nicht ihn, und nur die Nacht,

Fest nur, fest in Demut und Vertrauen,

Seele mein, mit deiner ganzen Macht.

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 714-716.
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