Am Pfingstsonntage

[635] Still war der Tag, die Sonne stand

So klar an unbefleckten Domeshallen;

Die Luft in Orientes Brand

Wie ausgedorrt, ließ matt die Flügel fallen.

Ein Häuflein sieh, so Mann als Greis,

Auch Frauen knieend, keine Worte hallen,

Sie beten leis.


Wo bleibt der Tröster, treuer Hort,

Den scheidend doch verheißen du den Deinen?

Nicht zagen sie; fest steht dein Wort,

Doch bang und trübe muß die Zeit wohl scheinen.

Die Stunde schleicht; schon vierzig Tag'

Und Nächte harrten sie in stillem Weinen,

Und sahn dir nach.


Wo bleibt er? wo nur? Stund' an Stund',

Minute will sich reihen an Minuten.

Wo bleibt er denn? – und schweigt der Mund:

Die Seele spricht es unter leisem Bluten.

Der Wirbel stäubt, der Tiger ächzt

Und wälzt sich keuchend durch die sand'gen Fluten,

Die Schlange lechzt.


Da horch! ein Säuseln hebt sich leicht!

Es schwillt und schwillt und steigt zu Sturmes Rauschen.

Die Gräser stehen ungebeugt;

Die Palme starr und staunend scheint zu lauschen.

Was zittert durch die fromme Schar,

Was läßt sie bang' und glühe Blicke tauschen?

Schaut auf! nehmt wahr!


Er ist's, er ist's; die Flamme zuckt

Ob jedem Haupt; welch wunderbares Kreisen,

Was durch die Adern quillt und ruckt![635]

Die Zukunft bricht, es öffnen sich die Schleusen,

Und unaufhaltsam strömt das Wort

Bald Heroldsruf und bald im flehend leisen

Geflüster fort.


O Licht, o Tröster, bist du, ach!

Nur jener Zeit, nur jener Schar verkündet?

Nicht uns, nicht überall, wo wach

Und trostesbar sich eine Seele findet?

Ich schmachte in der schwülen Nacht,

O leuchte, eh das Auge ganz erblindet;

Es weint und wacht!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 635-636.
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