Am ersten Sonntage nach hl. drei Könige

[573] Ev.: Jesus lehrt im Tempel.


Und sieh, ich habe dich gesucht mit Schmerzen,

Mein Herr und Gott, wo werde ich dich finden?

Ach nicht im eignen ausgestorbnen Herzen,

Wo längst dein Ebenbild erlosch in Sünden:

Da tönt aus allen Winkeln, ruf' ich dich,

Mein eignes Echo wie ein Spott um mich.


Wer einmal hat dein göttlich Bild verloren,

Was ihm doch eigen war wie seine Seele,

Mit dem hat sich die ganze Welt verschworen,

Daß sie dein heilig Antlitz ihm verhehle;

Und wo der Fromme dich auf Tabor schaut,

Da hat er sich im Tal sein Haus gebaut.


So muß ich denn zu meinem Graun erfahren

Das Rätsel, das ich nimmer konnte lösen,

Als mir in meinen hellen Unschuldsjahren

Ganz unbegreiflich schien was da vom Bösen,

Daß eine Seele, wo dein Bild geglüht,

Dich gar nicht mehr erkennt, wenn sie dich sieht.
[573]

Rings um mich tönt der klare Vogelreigen:

»Horch auf, die Vöglein singen seinem Ruhme!«

Und will ich mich zu einer Blume neigen:

»Sein mildes Auge schaut aus jeder Blume.«

Ich habe dich in der Natur gesucht,

Und weltlich Wissen war die eitle Frucht!


Und muß ich schauen in des Schicksals Gange,

Wie oft ein gutes Herz in diesem Leben

Vergebens zu dir schreit aus seinem Drange,

Bis es verzweifelnd sich der Sünd' ergeben,

Dann scheint mir alle Liebe wie ein Spott,

Und keine Gnade fühl' ich, keinen Gott!


Und schlingen sich so wunderbar die Knoten,

Daß du in Licht erscheinst dem treuen Blicke,

Da hat der Böse seine Hand geboten

Und baut dem Zweifel eine Nebelbrücke,

Und mein Verstand, der nur sich selber traut,

Der meint gewiß sie sei von Gold gebaut!


Ich weiß es, daß du bist, ich muß es fühlen,

Wie eine schwere kalte Hand mich drücken,

Daß einst ein dunkles Ende diesen Spielen,

Daß jede Tat sich ihre Frucht muß pflücken;

Ich fühle der Vergeltung mich geweiht,

Ich fühle dich, doch nicht mit Freudigkeit.


Wo find' ich dich in Hoffnung und in Lieben!

Denn jene ernste Macht, die ich erkoren,

Das ist der Schatten nur, der mir geblieben

Von deinem Bilde, da ich es verloren.

O Gott, du bist so mild und bist so licht!

Ich suche dich in Schmerzen, birg dich nicht!
[574]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 573-575.
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