CIV.

Ein Pachter begegnete seiner Frau auf einem öffentlichen Spaziergang, nachdem solche schon zehen Jahr lang begraben war.

[220] Es pfleget öfters zu geschehen, daß eine Person, die man für tod hält, solches nicht wirklich sondern nur dem Schein nach ist; ja man ist schon bisweilen von dem Schein so weit hintergangen worden, daß man lebendige Personen begraben hat: diejenigen Weiber, die mit Mutterbeschwerungen behaftet waren, sind hauptsächlich die betrübten Schlachtopfer einer solchen Unwissenheit gewesen, wie man solches aus folgender Geschichte ersehen wird. Zwey Kaufleute, die in der S. Honorius Strasse wohnten, und durch eine genaue Freundschaft, einerley Glücksumstände und Handlung, mit einander verbunden waren, hatten jeder von ihnen ein Kind, der eine eine Tochter und der andere einen Sohn, ohngefähr von gleichem Alter. Die ersten Empfindungen, welche der Tochter zu erkennen gaben, daß sie ein Herz hatte, lehrten ihr auch zugleich, daß solches dem jungen Menschen ergeben war, der ihr nicht weniger zugethan war. Diese gegenseitige Neigung wurde durch einen beständigen Umgang noch mehrers unterhalten, welchen[221] die Väter und Mütter um so viel lieber bewilligten, weil sie die Neigungen ihrer Kinder, mit ihren Absichten sie miteinander zu vereinigen, übereinkommen sahen. Man war schon im Begrif die Vermählung zu schliessen, als ein reicher Pachter im Weg kame, und um die Jungfer anhielte. Der Reiz eines viel glänzendern Glückes machte, daß ihre Aeltern ihren Entschluß änderten. Die Tochter gab, ihres bezeigten Widerwillens gegen dieses Werkzeug des Plutus ungeachtet, endlich dem eifrigen Zudringen derer, denen sie das Leben zu danken hatte, nach; sie heurathete den Pachter, und untersagte, als eine tugendhafte Frau dem jungen Menschen den sie liebte, auf ewig ihre Gegenwart. Die Melancolie, in welche sie die verhaßte Verbindung, die sie geschlossen hatte, stürzte, warf sie nieder, und verursachte eine Krankheit bey ihr, in welcher ihre Sinnen dergestalt betäubet waren, daß man sie für tod hielte, und ins Grab legte.


Ihr Liebhaber war der letzte nicht, der das betrübte Ende seiner Geliebten erfuhre. Weil er sich aber erinnerte, daß sie vor diesem einen heftigen Anfall einer Schlafsucht gehabt hatte, so schmäuchelte er sich, daß es vieleicht auch diesesmal dergleichen Bewandniß mit ihr gehabt hätte; und diese Hofnung hemmte nicht nur seinen Kummer, sondern trieb ihn auch zu dem Entschluß an, daß er[222] den Todengräber bestache, und mit dessen Hülfe die Verstorbene aus dem Grab nahme und zu sich nach Hauß truge. Er wendete sodann so gleich alle mögliche Mittel an, sie wieder zu sich zu bringen, und war so glücklich, seine Bemühungen mit einem guten Erfolg belohnet zu sehen.


Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr die wieder vom Tod erweckte Frau erstaunte, da sie sich in einem fremden Hauß und ihren Geliebten bey ihrem Bett sahe, und wie man ihr ausführlich erzählte, was während ihres Todenschlafes mit ihr vorgegangen war. Man brauchte nicht sonderlich viel Mühe ihr zu erkennen zu geben, wie viele Verbindlichkeit sie ihrem Erretter schuldig wäre. Die Liebe, welche sie jederzeit für ihn hegte, war der nachdrücklichste Redner bey ihr. Sie wurde völlig gesund, und weil sie glaubte, daß ihr Leben von Rechtswegen demjenigen eigen wäre, dem sie solches zu danken hatte, so giengen sie miteinander nach Engelland, und lebten daselbst unterschiedliche Jahre lang in der vollkommensten Einigkeit.


Nach Verlauf von zehen Jahren bekamen sie Lust, wieder nach Frankreich zurückzukehren; sie giengen demnach wieder nach Paris, und brauchten keine besondere Vorsichtigkeit sich zu verbergen, weil sie fest glaubten, daß sich kein Mensch von ihrer Begebenheit etwas würde beykommen lassen. Der[223] Pachter begegnete durch einen ohngefähren Zufall seiner Frau auf einem öffentlichen Spaziergang. Dieser Anblick machte einen so lebhaften Eindruck bey ihm, den die Ueberzeugung, die er von ihrem Tod hatte, nicht verlöschen konnte. Er machte, daß er sie erreichte; und verließ sie, ungeachtet der verstellten Sprache, welche sie um ihn zu hintergehen annahme, in vollkommener Ueberzeugung, daß sie wirklich diejenige wäre, für die er getrauret hatte.


Das Besondere dieser Begebenheit hatte diesem Frauenzimmer solche Reize gegeben, die sie in den Augen des Pachters niemals gehabt hatte, er entdeckte ihren Aufenthalt in Paris, ob sie gleich einige Vorsicht gebraucht hatten, sich zu verbergen, und verlangte sie als seine Frau vor Gericht wieder zuruck.


Alle Gründe, womit der Liebhaber seine Ansprüche, die er durch seine Bemühungen an seine Geliebte erlanget hatte, geltend zu machen suchte; da er vorstellte, daß sie ohne seine Hülfe tod seyn würde; daß sein Gegner sich dadurch, daß er sie hatte begraben lassen, aller Ansprüche auf sie verlustig gemachet habe; daß man ihn so gar als einen Mörder belangen könne, da er aus seiner eigenen Nachläßigkeit, die zur Versicherung des wirklich erfolgten Absterbens erforderliche Vorsicht nicht gebrauchet habe, alle diese und tausend andere Gründe,[224] die ihm die sinnreiche Liebe an die Hand gabe, waren vergebens; da er aber merkte, daß bey Gericht der Wind nicht günstig für ihn war, so erwählte er das Mittel, das Urtheil des Processes nicht abzuwarten, und reiste mit seiner Geliebten in fremde Lande, wo sie ihre Lebenstage in Ruhe endigten.


Causes celebres, tom. 8.

Quelle:
[Dumonchaux, Pierre-Joseph-Antoine] : Medicinische Anecdoten. 1. Theil, Frankfurt und Leipzig 1767 [Nachdruck München o. J.], S. 220-225.
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