Die tugent sihet vnd kennt sich selbs nit.

Virtus suijpsius nescia.

[354] Es ist niemand gar güldin. Es ist kein tugent on fähl /vnnd kein gůt werck on nachtheyl. Die Sonn sihet oder scheinet jr selbs nit. Die tugent ist so zart / vnd jr selbs so vnbekandt / daß sie all ding ehe sihet /dann sich selbs. Ein frommer mensch sihet nicht dann sein vnuolkommenheyt vor augen. Schön leuth die sich selbs kennen / vnnd jr schöne wissen die seind schön nicht schön / sonder werden stolz / übermütig /vnnd überheben sich jrer schöne / daß sie eben damit alle schöne vnd gnad vor Gott vnnd der welt verlieren / daß mann spricht. Sie weyß wol daß sie schön ist /mann darff sie für keinn spiegel füren. Also ist tugent nit tugent / wann sie sich selbs sihet vnd weyß / sonder gewiß ein angemaßte heucheley vnnd ein gleiß. Die betten am meysten / die inn nöten gestellet zum Herren von hertzen im glauben schreien / vnd nicht daran dencken / oder wissen daß sie beten. Die fasten recht / die inn nöten oder vor andacht vnd innigkeit des geysts verzuckt / alles essens vergessen / wie mann von S. Bernhardt lißt /[354] daß er in einer hefftigen meditation verzuckt / neben jm einn ölkrůg erwischt /einn gůten trunck thet / vnd nicht empfand das es öl war.

Quelle:
Egenolff, Christian: Sprichwörter / Schöne / Weise Klugredenn. Darinnen Teutscher vnd anderer Spraach-en Höfflichkeit [...] In Etliche Tausent zusamen bracht, Frankfurt/Main 1552. [Nachdruck Berlin 1968], S. 354-355.
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