XXXVIII. Brief

An Amalie

[79] Hättest Du mir noch einen Monat länger nicht geschrieben, so würde ich mich schon bei Dir selbst gemeldet haben, denn mir war für dein Schiksal bange. – Uebrigens, meine Liebe,[79] bin ich mit deinen Bemerkungen über das Schauspiel sehr zufrieden, und will Dir izt auch meine Meinung darüber sagen: Die Sitten reisender Schauspieler sind fast durchaus verdorben. Der Grund davon liegt in unendlichen, wovon ich nur den Haupttheil berühren will. Die Bühne ist der lezte Zufluchtsort aller Gattung verlaßner Menschen. Die meisten sind lüderliche Bursche, oder ausgelaßne Mädchen, die die Kunst blos zum Dekmantel wählen. Die allerkleinste Anzahl davon sind wahre Unglükliche, die aus Schiksal, aus Mangel diesen Stand wählten. Wenn nun diese erstere Klasse von Menschen ohne Erziehung, ohne Ehrengefühl, mit gränzenlosen Leidenschaften begabt, eine Bahn betreten, wo so viel tausend Gelegenheiten diese Leidenschaften reizen, so müßen solche Menschen weit ausschweifender werden als andere, die in den engen Schranken ihres bürgerlichen Lebens nichts vom Neid, nichts vom Eigennuz und nichts von der Wollust wissen. Schwäche der Seele, wenige Moral bei so häufigen Versuchungen sind die Fehler dieser Unglüklichen, die sich den Lüsten eines Jeden darstellen müßen und nicht Stärke genug haben, den Angriffen auszuweichen, die das Vorurtheil so frei, so allgemein, besonders bei den Schauspielerinnen wagt. Man rechnet diese Frauenzimmer unter die allgemein buhlenden, und die meisten leider beweisen es auch mit der That, daß man ihnen nicht Unrecht thut, sie darunter zu rechnen. Veränderung der Lage, Armuth, weibliche Eitelkeit, Liebe zur Verschwendung, die durch schwärmerische Rollen gereizte Nerven, Neuheit der Bekanntschaften, wozu diese Leute auf ihrem Herumreisen verleitet werden, alles das zusammen genommen, bringt diese Schwachen zu so vielen Ausschweifungen; und da die meisten aus ihrer Kunst ein Handwerk machen, so ist es sehr wahrscheinlich, daß die Moral, die sie täglich auf der Bühne im Munde führen, auf sie selbst nicht mehr wirkt. Ich habe Schauspielerinnen gekannt,[80] die es so weit im Mechanismus brachten, daß sie hinter den Koulissen manche der Moral widrige Handlungen trieben, und einen Augenblik hernach mit allem möglichen Schein auf der Bühne ernsthafte Empfindungen und eine Art Träume nachahmten, daß der gröbere Theil des Publikums ihnen sogar Beifall zuklatschte. – Der Kenner sieht nun freilich durch so eine Larve hindurch, und weis recht gut zu unterscheiden, was für Gefühle Mutter Natur in eine Schauspielerin gelegt hat, oder nicht. – Es ist kein richtigerer Weg um die hervorragenden Züge der Karakteristik eines Schauspielers zu entziffern, als sein Spiel selbst; besonders bei dem Frauenzimmer kann man es beinahe auf den Wink errathen, welcher Karakter im bürgerlichen Leben ihnen eigen ist, wenn man sie lange und ohne Vorurtheil beobachtet. Die Kokette wird in der sanftesten Rolle mit einer gewissen Frechheit hervorblikken, und das gutgezogene Mädchen wird im Gegentheil in der ausschweifendern Rolle der Kokette doch hervorschimmern. – Und gesezt, beide von dieser Art Schauspielerinnen hätten es auch in ihrer Kunst so weit gebracht, die Täuschung fast glaubbar zu machen, so ist es doch für den ächten Menschenkenner nichts Unmögliches, so eine Person in Rollen, die sie blos als Künstlerin liefert, zu karakterisiren und ihren sittlichen Wandel zu entdekken. Wenn der Kopf einer Schauspielerin in Rollen, die nicht auf ihren Karakter passen, allein arbeitet, so merkt es der feinfühlende Kenner recht gut, daß das Herz dabei fehlt. – Wenn gewisse Sinnen des empfindsamen Zuschauers nicht durch das vollkommene Spiel des Schauspielers befriedigt werden, so wird er über kurz oder lang das Fehlende am Schauspieler entdekken, woraus er die Hauptleidenschaften seines Karakters von seiner spielenden Rolle unterscheiden kann. – Der Schauspieler selbst, so weit er es auch im Studium gebracht hat, muß es an sich fühlen, daß ihm entweder der Ton, das Gefühl,[81] oder das Wahre fehlt, wenn er in einer Rolle spielt, die nicht mit seinem Karakter harmonirt. Erinnere Dich, meine Liebe, dieser Bemerkungen, und sie werden Dich zu Kenntnißen führen, die blos in der Natur liegen und also untrüglich sind. Es gehört aber lange Erfahrung und eine genaue Beobachtung dazu, sonst kann man sich leicht irren; besonders junge Mädchen, die des Schauspielers sittlichen Karakter blos aus der glänzenden Rolle beurtheilen, und ihm eben die Tugenden außerhalb der Bühne zuschreiben, die ihnen ihre Neigung für sein Spiel (es mag gut oder schlecht seyn) eingiebt. Man ist auch gar zu sehr geneigt, den Karakter im sittlichen Leben nach der Güte einer Rolle abzumessen und man betrügt sich nur zu oft gräßlich, denn die Moral ist auch in dem Munde eines Nichtswürdigen geduldig, und sträubt sich nicht, ob sie ein guter oder böser Mensch auf die Welt bringt. Dazu gehört aber tiefe Kenntnis der Kunst, wenn man unterscheiden will, ob der Spielende der Natur seines Karakters gemäß arbeitete; ob er die Moral als trugloser Heuchler so darstellte, daß man es für Harmonie mit seinen Tugenden halten kann; oder ob er blos durch die Kunst eine glänzende Larve trägt, die durch Festigkeit auf der Bühne, durch seine eigne Einsicht für den Zuschauer so täuschend wird, daß man das für die Sprache der Tugend hält, was blose Gewohnheit im Handwerk ist. – Manchem unschuldigen Mädchen glitscht so ein moralischer Pasquillant unvermerkt ins Herz, und reizt mit seinem Flitterstaat ihr Auge so sehr als ihr Zutrauen. Denn dem Mädchen oder dem Jungen ohne Erfahrung ists unbegreiflich, daß es Schauspieler geben könne, die mit der Moral so vertraut sind, und doch dabei so ausschweifend handeln. Die Jugend ist gar zu sehr geneigt für die Schauspieler und Schauspielerinnen Leidenschaften der Liebe zu empfinden, weil ihre vortheilhaften Rollen und überhaupt ihr ganzes Aeußerliches unendlich[82] reizt! – Nun zum Beschluß ein warmes Mäulchen von deiner Freundin!


Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 79-83.
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