XLVIII. Brief

An Amalie

[116] Schon wieder, meine gütige, nachsichtsvolle Freundin, lies ich zween Briefe von Dir zusammenkommen; aber da Du meine Familiengeschäften kennst, so wirst Du mir es gewis nicht übel deuten. Dein Schiksal, liebes Malchen, haßt Dich entsezlich, daß Du immerfort auf unrechte Menschen stößest, gerade als ob alle blos auf Dich lauerten, nur um Dich zu kränken und zu martern. – Du hast Dich indessen unverbeßerlich in einer Lage gezeigt, wo jedes Mädchen vielleicht gestrauchelt hätte. Bleib standhaft, meine Freundin, der Tag der Rettung ist vielleicht nicht mehr ferne. – Mit Abscheu durchdrang mich die Schilderung jenes Mannes,[116] der deinem Oheim hoch und theuer versprach Vaterstelle an Dir zu vertretten; – jenes Mannes, der mit der heiligsten Würde seine Begierden nicht zu bemeistern weis; jenes Mannes, der mit seinem grauen Kopfe auch graue Leidenschaften in sich nährt. Glaube mir, meine Liebe, wenn sich die katholischen Geistlichen begatten dürften, so geriethen sie auch minder auf Abwege. Die Natur ist eine mächtige Bestürmerin des menschlichen Herzens und wenig Menschen sind ihrer Triebe mächtig. Ich begreife nicht, warum man in dem Menschen durch Gesezze Empfindungen erstikken will, die dem Schöpfer und seiner Macht Ehre machen. Der Mensch ist ein Thier, dessen Willen der Vernunft untergeordnet ist, er hat durch diesen Willen seine thierischen Triebe einzuschränken, zu verfeinern gelernt, aber aus dem Körper ganz vertilgt sind sie darum nicht, diese Triebe der schwachen Menschheit; – und eben darum verdienen die Menschen, die man zwingt den Keim der gährenden Menschheit zu unterdrükken, mein wahrhaftes Mitleid. – Nur müßen Geistliche von gewißem Alter, wie dein Verführer ist, nicht darunter gerechnet werden, denn da sind es nicht mehr Wallungen der hinreißenden Jugend, es sind Ueberbleibsel der sich angewöhnten Wollust. – Du hast vollkommen Recht, Dich so gegen diesen Mann zu betragen, wie es deine Grundsäzze erlauben. – Die Tugend verdient erst alsdann eine Krone, wenn sie von der Vernunft einen strengen und wichtigen Sieg erhält. Die Beschreibung deines Hoflebens war lebhaft. Am Hofe findet man freilich das meiste Verderbnis. – Häufig eilen da die Herzen der Fäulnis zu, die Vernunft wird durch das Geräusch verjagt, die Ueberlegung vom Taumel übertäubt, und die Sitten durch das Beispiel vergiftet. Kaltblütig lernen da die Menschen lügen, der Leichtsinn ist die herrschende Triebfeder, Galanterie die Sprache der Gewohnheit, und so weicht das Menschengefühl[117] für Wohlwollen und Tugend aus dem Herzen eines Höflings. Mistrauen wird einem jeden Höfling zur Regel, weil er selbst schwarze Falschheit im Busen trägt, und eben darum fürchtet er diese Falschheit mit so vieler Ueberzeugung an Andern. Wenn dann unter diese Menschen hinein ein unverdorbnes Herz geräth, so wird es von ihnen gleich einem Fremdlinge betrachtet. Die Weiber buhlen bei Hofe bis es ihnen die Natur versagt, und die Männer werden durch frühe Ausschweifungen zu jungen Greisen. Doch weiter zu deinen poßierlichen Kaplänen. – Nimmermehr hätte ich mir in einem Winkel der Erde solche Originale geträumt. Ist es möglich, daß man sie duldet, ist es möglich, daß das Vorurtheil noch so in voller Stärke da thront? – Diese Menschen müßen gar nicht denken, sonst würde sie die Natur selbst der Aufklärung etwas näher bringen. Ich bilde mir ein, daß diese Geschöpfe ihre Stunden so gleichgültig wegschlummern, so lange sich die Maschine, in der sie stekken, fortwälzt. Unwissenheit ist ihnen zu vergeben, denn es ist Mangel an Erziehung, an Einsicht; aber Eigensinn, Verdammungsgeist, Theologenwuth, ist sträflich, ist Meineid an der Natur, die alle Menschen von jeder Religion zum ewigen Frieden schuf. – Der Mensch kömmt unwillkührlich zur Welt, der Mensch wird in der Folge das, was seine Eltern aus ihm ziehen; und wer wollte es da wagen, dem Unschuldigen die Belohnung abzustreiten, die ihm von der Vorsicht in seiner Religion geöffnet wurde? – Wozu denn Eigensinn und Zänkereien in der Religion, wenn es dem mächtigen Richter im Himmel selbst gefiel, mich in dieser oder jener Religion geboren werden zu lassen? – Das Kind in Mutterleib ist das Werk der Allmacht; seine Geburt macht es zum Menschen, die Erziehung zum Christen, und die gute Ausübung seiner Pflichten zum Seligen. Man lasse jedem, was ihm zur Beruhigung dient, und zanke sich[118] nicht blos untereinander, um den gegenseitigen Hochmuth zu empören. Die Religion braucht keine Vertheidiger, sie vertheidigt sich in ihren wichtigsten Punkten selbst. – Jeder Schulfuchs glaubt sich an Dinge wagen zu dürfen, die blos dem Vernünftigen, dem Hellsehenden zur Entscheidung überlassen werden müßen. Die Kopfrebellion ist die gefährlichste, weil die Dummheit am meisten in den Köpfen stekt. Duldung für Alle ruft uns der Schöpfer zu, und wer seine Stimme überhört, sündigt gegen die Rechte der Religion und Menschheit. Der Kern der Moral ist einfach, ein jeder genieße ihn nach seiner Weise. Der Willen steigt zum Ewigen, das Uebrige ist das Werk der unruhigen Köpfe. Und nun auch noch ein Wörtchen von deinem geizigen Kaplan. – Ich habe mich über diese Schilderung fast krank gelacht. Daß doch die Leidenschaften überall ihren Wohnsiz haben! – So ein Mann hat ja sein Auskommen, warum wagt er es, sich und seine Würde durch Geiz zu erniedrigen? Was sagt denn der Pfarrer zu dieser Aufführung? – Oder ist es vielleicht schon so stark zur Gewohnheit geworden, daß man diese Unanständigkeiten gar nicht mehr ahndet? – Ueble Gewohnheiten fassen tiefe Wurzeln, die der Wohlstand nicht so leicht mehr ausrottet, wenn sie verjährt sind. – Spare übrigens deinen Wiz nicht gegen solche Menschen; vielleicht läßt sich einst noch ein Schein von Empfindung blikken. – Was Du mir nach der Hand von der Eifersucht der Haushälterin erzählst, ist mir nicht unbegreiflich, ich kenne dieses Ungeheuer, das immer tief in dem Herzen der Weiber wohnt. Wenn die neue Haushälterin eintrift, so gieb Acht, sie ist gewis kaum warm, so wirds das Nemliche seyn. Schone deinen Oheim noch mit der Nachricht von den Verfolgungen, die Du duldest, es ist noch Zeit genug, ihm Kummer zu machen, wenn Dir sonst keine Rettung mehr übrig bleibt. – Zum Beschluß eine feste Umarmung, und gute Nacht!


Fanny.[119]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 116-120.
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