LVI. Brief

An Amalie

[139] Es freuet mich, meine Liebe, daß bei Dir meine Prophezeihung in Ansehung deines Klosterlebens eingetroffen hat. Nun siehst Du doch, daß meine Ueberlegungen eben nicht die unrichtigsten sind. – Das Einförmige, die wenige Beschäftigung in Klöstern nährt überhaupt alle Leidenschaften. Die Wünsche haben da mehr Macht in den Herzen der Menschen zu toben, weil keine Hofnung, diese Wünsche jemals zu erfüllen, diese Macht hindert. Unzufriedenheit, nagende Schwermuth ist das Erbtheil dieser unglüklichen Schlachtopfer. – Melankolie, Hypochondrie, sezt sich in ihrem Busen fest, und wählt zum Gegenstand ihrer Nahrung, diese oder jene Leidenschaft. Doch ist Liebe die allgemein herrschende Qual für solche arme Mädchen. Sie opfern der Liebe oft im Stillen ihre Ruhe, ihre Gesundheit, ihre Seligkeit auf, denn Verzweiflung ist gewöhnlich die Nachbarin der Sklaverei. – Selbst die reinste, unerfahrenste Unschuld fühlt nicht so leicht Hang zum Laster, aber doch Hang zur Liebe, zur Begattung. – Die größte Schwärmerei der Religion ist nicht vermögend einen Trieb zu besänftigen, der so unwillkührlich im menschlichen Körper wohnt. – Auch die größten Bigotten halten im Stillen Liebe nicht für sträflich, und wenn sie über diese große Menschenbezwingerin siegen, so ist es tief eingewurzeltes Vorurtheil, Heuchelei, oder glükliches Temperament. – Der Mensch hat da keinen freien Willen, wo die Natur ihr Recht fodert: aber diese Natur nicht durch gesezwidrige Ausschweifungen zum Gegenstand der Zügellosigkeit zu machen, dazu hat der Mensch vom Schöpfer freien Willen erhalten. Jedes Mädchen hat doch wenigstens[139] bisweilen einige Spuren der urtheilenden Vernunft in sich. Eben diese Spuren werden ihr in den Stunden der Langweile laut ins Ohr rufen: Thörin! – Die Natur hat Dich frei geschaffen, und Du wagst es zu deiner eigenen ewigen innerlichen Qual, Dich von Unwißenden in das Joch einer gezwungenen Enthaltsamkeit werfen zu laßen! Die Religion selbst billigt Liebe, und zwischen Liebe und Laster ist ein großmächtiger Unterschied. – Die Klostermenschen versäumen immer die erstere, und haschen nach dem leztern. Die Weltkinder hingegen vertauschen wahre Liebe mit Wollust, mit Sinnlichkeit. Liebe hat ihre besondere Gesezze, und das ist eben nicht Liebe, was man ohne Vereinigung der Moral, blos zur Befriedigung der Begierden genießt. Wenn die Nonnen von ihren Eltern den wahren, würdigen Gebrauch der Liebe gelernt hätten, wenn sie gelernt hätten diesen Alles belebenden Trieb mit Vernunft, mit Ueberlegung, ohne Absichten, blos zur Seelenentzükkung zu genießen, welche Nonne würde nicht über die Mauern hinaus ohne Sündenfurcht in die Arme der Liebe springen? – Die Begriffe, die man diesen armen Kindern beibringt, gehen meistens auf Unkosten der tugendhaften Liebe; man malt diesen unerfahrnen Mädchen Ausschweifungen statt gemäßigten Trieben vor, man zeigt ihnen Laster, statt Tugend, in der wahren Liebe. – Man schreit über die böse Welt, und endlich überrascht von solchen schwarzen Schilderungen, eilt das junge leichtgläubige Mädchen hin zum Altar, und von diesem – in ewige Feßeln. – So verlieren aus Gewohnheit, aus Uebermas der Andächtelei, die wenig zufriedenen Nonnen, die etwa noch in Klöstern zu finden sind, ihr Gefühl für Gott und die Menschen. – Denn wer für Wohlwollen, für die Natur, für das gesellige Leben kein Gefühl hat, der hat auch keines für seinen Schöpfer. Unnüz fürs Gute, leben diese Geschöpfe blos der Nahrung, dem Schlaf, dem Neid, der Weiberei, und der mechanischen Religionsübung,[140] die sie eben so wenig verstehen, als die Erziehung der Kinder, mit der sich einige Klöster zum Unheil der Menschheit beschäftigen. Du hast Recht, meine Liebe, ein mittelmäßiges Leben ist dem Kloster und dem Geräusch der großen Welt vorzuziehen. Beides ist überspannt, beides gefährlich. Indessen mußt Du Dir in den Armen eines Gatten nicht lauter Himmel versprechen; es kömmt erst darauf an, in wie weit deine Wahl gut ausschlägt. – Nicht jeder Jüngling hat gutes Herz genug, in der Ehe die beiderseitige Zufriedenheit zu befestigen. Du weißt, was Du mir selbst lezthin über jenes junge Weibchen schriebst. – Für dein Herz, für deine Vernunft steh ich gut, wenn Du nur an Jemanden geräthst, der dieses Herz mit Güte zu leiten weiß. – Nur, meine Freundin, sind die beßten Herzen immer die schwächsten, und gerathen sehr leicht auf Irrwege, wenn ihnen Rohheit, oder brutales Betragen entgegengesezt wird. – Du bist lebhaft, meine Theuerste! – Du hast einen hellen Geist und sehr wenig Vorurtheil; zu welchen Exzessen wärest Du nicht aufgelegt, wenn Dich ein Gatte übel behandeln sollte! – Ueberlege deine Heirath wohl, und versage deiner Freundin das Zutrauen nicht.


Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 139-141.
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