LXIV. Brief

An Amalie

[162] Liebe, gute Amalie! – Die neue Wunde, die Dir wieder dein Schiksal schlug, muß tief in dein Herz gedrungen seyn! – Aber ist es nicht der Vorsehung Werk? – Beruhige Dich um Gotteswillen, du bist es Dir, Du bist es deinem Gatten, Du bist es deiner Fanny schuldig! – Ich will Dir ja mit einem fühlenden Herzen Alles seyn, Schwester, Mutter und Freundin! – Kannst Du in einer an guten Menschen darbenden Welt mehr fodern? – Mein Geschik ist zwar neidisch genug, mich nicht an deiner Seite zu lassen. – Aber Trost, Freundschaft, Rath, Thränen, Mitleid, das alles, mit Dir, auch in der Entfernung zu theilen, ist für mich Götterwollust! Laß es austoben dein hartes Schiksal, es kann nicht immerfort so rasen, es muß brechen, wenn seine Wut auf den höchsten Gipfel gestiegen ist. Tröste Dich mit dem Leiden Anderer, es giebt noch weit Unglüklichere. Es giebt Menschen in der Welt, die im Stillen am tiefsten Gram dahinzehren. Die sich nicht einmal können,[162] nicht einmal dürfen mittheilen, die finster, in sich geschlossen zurükgeschrökt von der Menschheit, durch die Folter ihrer Ruhe bis zum Grabe hingeschleppt werden! Verlust der Ehre, des guten Namens, Gefangenschaften, verfolgte oder betrogne Armuth, Falschheit der Freunde, Todesfälle, unglükliche Ehen, böses Gewissen, sind so ungefähr die herrschenden Plagen dieser Welt, auf die wir uns gefaßt halten müßen. Schon hast Du mehrere dieser Klassen durchwandert, und Dir dadurch einige Stufen zum ungestörten Leben jenseits gebaut. – Ist diese Hofnung nicht reizend? – Ist sie nicht ein starker Schuz gegen die Kleinmuth? – Sagt Dir nicht deine Vernunft, es eilt dahin dies träumende Leben zu einem bessern? – Werden nicht alle irrdischen Hofnungen in dem unglüklichen Menschengehirn gestört? – als gerade diese nicht, wenn sie in einem Herzen liegt, das sich der Religion öffnet. Diese Stimme, die jeden Christen bei den Abgründen seines grausamen Schiksals zurükruft, muß untrügliche Warheit seyn, denn sie ist zu mächtig, zu tröstend für den armen Wanderer! – Sey billig, meine Freundin, gegen die Fügungen des Schöpfers. Empfinde sie, aber murre nicht. Dein Herz ist zu groß, deine Seele zu erhaben, um nicht über kurz oder lang mit Standhaftigkeit eine Aenderung abzuwarten. Anhaltendes Unglük untergräbt freilich unsere Gesundheit, wenn die Natur uns schwache Nerven gab, aber es bildet das Herz, veredelt die Seele, klärt den Verstand auf, und macht uns zu wahren denkenden Menschen. Unsere Empfindung wird durchs Unglük feiner, unser Herz mitleidiger, und unsere Tugend erhabner. – Ich glaube immer, der wahre gute Mensch muß wenigstens einmal in seinem Leben unglüklich gewesen seyn, sonst kann er nicht wahrhaft gut seyn, denn Befriedigung aller Wünsche im menschlichen Leben stumpft die Seele ab, erwekt Ekkel und Hartherzigkeit. Die Menschen, die in ungestörten Freuden[163] des Lebens dahin taumeln, mit nichts zu kämpfen haben, besizzen wenig Seelenkräfte, und besonders gar keine Standhaftigkeit, wenn es darauf ankömmt Andern zu helfen oder mit ihnen zu fühlen. Sie sind Maschinen, die, wenn sie dem Wohlleben entrißen werden, nichts weiter empfinden, als den Verlust ihrer unbefriedigten Sinnlichkeit. Im Unglük lernt man denken und moralisch handeln, denn kein Herz das einmal selbst geblutet hat, wird ein anderes zum bluten bringen. Man muß die Leiden selbst empfunden haben, wenn man Andere damit schonen will. Man muß schon mehrmalen das Opfer der Untreue, der Falschheit, der Niederträchtigkeit gewesen seyn, um sie nicht an Andern auszuüben. Kurz, das Herz wird unstreitig durchs Unglük besser. Streite also muthig, Freundin, mit deinem Schiksale. Nimm es auf, wie es die Absicht des gütigen Schöpfers ist. Hättest Du nicht mit so unendlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, wer weis, ob nicht Leichtsinn und Ausschweifung bei deiner äußersten Lebhaftigkeit Dir zu Theil geworden wäre. – Wer weis, ob Du nicht schon als ein Opfer der Wollust auf dem Krankenbette jammertest. – Wer weis, ob dein Herz nicht stolz, ob alle deine Leidenschaften nicht über den Kopf geherrscht hätten. – Komm, meine Amalie, laß uns fest entschloßen, mit aller Tugend der Sanftmuth, mit aller Ergebenheit für die Geheinmiße des unbegreiflichen Schiksals, bis zu jenen schaudernden Augenblikken fortwandeln, wo die Natur ihr Nichts wieder zurükfodert, und der Schöpfer eine Seele erwartet, die er zu seiner Verherrlichung in einen zertrennlichen Körper legte. Das ist unser Endzwek, meine Theure; das übrige, was in dem menschlichen Leben vorgeht, ist ein Traum, der länger oder kürzer dauert. –


Deine Fanny.[164]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 162-165.
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